Wie hätte sich Hannah Arendt wohl zu staatlichen Eingriffen während einer Pandemie positioniert? Heiligt der Zweck die Mittel? Sie war eine der kontroversesten zeitgenössischen Denkerinnen, die durch ihre radikalen Positionen immer wieder Debatten auslöste. Mit ihren Begriffen der „totalen Herrschaft“ oder der „Banalität des Bösen“ sorgte sie für Erregung, mit ihren Argumentationen gegen Staats- und Autoritätszentrierung für Widerspruch. Ihre Bedeutung als politische Denkerin rückt die Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert des Deutschen Historischen Museums in den Mittelpunkt, die aktuell in der Bundeskunsthalle Bonn zu sehen ist. Die Schau folgt Arendts Stellungnahmen über und durch das vergangene Jahrhundert und zeigt historische Dokumente: rund 300 Objekte sowie zahlreiche Hörcollagen, darunter das berühmte Interview mit Günter Gaus (1964), in dem sie rund eine Stunde lang rauchend reflektiert auf dessen Fragen antwortet.
Markante Zitate lotsen durch die Ausstellung. „Ich war wirklich der Meinung, dass der Eichmann ein Hanswurst ist.“ (Arendt, 1964) liest man etwa in dem Bereich, der den von ihr geprägten Begriff der „Banalität des Bösen“ aufgreift. Arendts Bericht, der 1963 in der Zeitschrift The New Yorker erschien (später als Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen) und in dem sie Adolf Eichmann, der während des Nationalsozialismus verantwortlich für die Deportationen von Millionen von Juden in Vernichtungslager war, als gewöhnlichen Schreibtischtäter bezeichnete, löste seiner Zeit einen weltweiten Eklat aus, nicht zuletzt wegen ihrer Darstellung kollaborierender „Judenräte“ während der NS-Zeit. In der Ausstellung stößt man auf die Protokolle zur Vernehmung von Eichmann (Jerusalem, 1960). Der israelische Ermittler Avner Less verhörte ihn 275 Stunden lang. Arendt wohnte dem Prozess als Journalistin bei. Ein Artikel von Golo Mann aus Die Zeit vom 24. Januar 1954, mit dem Titel: „Der verdrehte Eichmann“ zeugt von der Provokation, die Arendts Thesen nicht nur in jüdischen Kreisen darstellte. So warf Mann ihr darin „überkluge Dialektik“, „Freude an der Verdrehung“ und „Arroganz“ vor.
Selbst enge Freunde wandten sich im Zuge der Publizierung des Prozessberichts von ihr ab. Ein zentraler Vorwurf Gershom Sholems, der sie traf, lautete: Ihr fehle es an Liebe zum jüdischen Volk. In einer Hörcollage kann man nachhören, wie souverän Arendt auch hier den Vorwurf aushebelte: Richtig, sie liebe kein Volk und schon gar keine Nation (wenn sie auch aus der Bewunderung für ihre Wahlheimat, den USA, keinen Hehl machte) – sie liebe ihre Freunde!
Kohärent werden in der Schau die vielen engen Freundschaften Arendts durch zahlreiche Briefwechsel beleuchtet. Gegen Ende des Rundgangs kann man auf Tafeln die Biografien von Freund/innen nachlesen, darunter: Walter Benjamin, Mary McCarthy und Karl Jaspers. „Zu den tätigen Modi des Lebendigseins gehört für Arendt auch die Freundschaft“, schreibt Ursula Ludz im begleitenden Katalogbeitrag, der ihr politisches Denken und ihr Freiheitsverständnis beleuchtet. Wohltuend wirkt in der Ausstellung, dass ihre Liebesbeziehung zu Martin Heidegger nicht unnötig ausgeschlachtet wird. Die Beziehung bleibt uneindeutig und wird unter ihren Freundschaften genannt.
Ihre eigensinnige Sicht auf politische Umbrüche zeigte sich nicht zuletzt an ihrer differenzierten Haltung zu den Studentenbewegungen: der in den USA (Anti-Vietnam; gegen Rassentrennung) stand sie grundsätzlich positiv gegenüber; den deutschen Dutschke-Anhängern begegnete sie hingegen mit Skepsis und warf ihnen Dogmatismus und Theorielastigkeit vor – eine Einschätzung, die Parallelen zu ihrer Hervorhebung der US-amerikanischen Revolution gegenüber der französischen zeigt. Das Misstrauen beruhte jedoch auf Gegenseitigkeit, sah die deutsche Linke Arendt doch eher als Konservative und störte sich insbesondere an ihrem Vergleich nationalsozialistischer Konzentrationslager mit stalinistischen Gulags unter dem mittlerweile zum Schlagwort gewordenen Begriff „Totalitarismus“. Auch ihre Position gegenüber den feministischen Bewegungen brachten ihr dort keine Verbündeten. Arendt, die 1959 als erste Frau eine Gastprofessur an der Princeton University erhielt, betrachtete diese Emanzipation nicht als prioritär und sah sich als Akademikerin in einem männlichen Umfeld keineswegs als Feministin.
Die Schau zeigt Arendt zudem als politisch Wirkende und Handelnde. Als Geschäftsführerin der Jewish Cultural Reconstruction (JCR) half sie ab 1949 mit, von den Nationalsozialisten geraubtes Kulturgut ausfindig zu machen und zurückzuführen, erstellte Listen geraubter Bücher und führte Verhandlungen über deren Rückgabe. Sie stellte aber auch Anträge auf „Wiedergutmachung“ (ein sehr deutsches Un-Wort) in eigener Sache. 1966 führte Arendt Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht, dabei ging es um den Anspruch auf eine entgangene Beamtenpension. Aufgrund ihrer Flucht aus Deutschland 1933 hatte Arendt ihre Studie über Rahel Varnhagen nicht mit einer Habilitation abschließen können. Das Gericht entschied, die Studie als Habilitation anzuerkennen.
Gleichwohl stand sie dem Zionismus kritisch gegenüber. Hatte sie 1941 noch in der deutsch-jüdischen Emigrantenzeitschrift Aufbau die Gründung einer jüdischen Armee gefordert, die mit den Alliierten gegen Hitler kämpfen sollte („Wer als Jude angegriffen wird, muss sich als Jude verteidigen“), so löste sie mit dem Artikel „Der Zionismus aus heutiger Sicht“ einen Streit aus, weil sie den Anhängern der Bewegung Nationalismus vorwarf.
Ihr Aufsatz „Wir Flüchtlinge“ (1943 erschienen in der Zeitschrift Menora) hat bis heute nicht an Aktualität eingebüßt. Arendts theoretische Beschäftigung mit dem Problem der Staatenlosigkeit blieb immer an ihre eigene Erfahrung als Flüchtling gebunden.
Ihr Unbehagen gegenüber dem in Deutschland propagierten Neuanfang beschrieb sie schon Ende des Zweiten Weltkrieges in einem kleinen Band Besuch in Deutschland (ursprünglich in der Zeitschrift Commentary im Herbst 1950 erschienen). Das Schweigen der Täter-Nation über die NS-Vergangenheit sprang ihr ins Gesicht: „Doch nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland.“ Solche Zitate stehen in der Ausstellung im gelungenen Kontrast zu den mit Aufbau aus den Trümmern werbenden Plakaten der CDU.
Ihre Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) sorgte für Aufsehen, verortete sie jene Elemente totaler Herrschaft doch bereits in der Kolonialgeschichte. – Ohne daraus eine zwangsläufige Entwicklung abzuleiten. Stattdessen sprach sie von der Rückwirkung einzelner kolonialer Vorstellungen auf die NS-Ideologie, die sie „Bumerangeffekt“ nannte. Dazu gehörten ihr zufolge der Rassismus, die Außerkraftsetzung der abendländischen Gleichheitsvorstellungen und die Entgrenzung der Gewalt (in der entsprechenden Hörcollage wird davor gewarnt, dass das Wort „Neger“ fällt).
Die zahlreichen sinnlichen Projektionen in der Ausstellung brechen eine Lanze für das Wagnis Arendts’ selbst zu urteilen. In der Bundeskunsthalle in Bonn ist ein Forum aufgebaut. Eine bunte Collage an Stimmen liefert ein Spiegelbild der Generationen rund um die Frage, was Urteilen bedeutet. Arendts Credo selbst: „Nicht mitmachen, selber urteilen: dass man nicht WIR sagt“.
Am Ende des Rundgangs sind markante Aufnahmen Arendts von Fred Stein zwischen 1944 und 1966 zu sehen. Daneben sind persönliche Gegenstände Arendts zusammengetragen, Accessoires, die davon zeugen sollen, dass Arendt auch modisch als Ikone im Gedächtnis bleibt. – Gewiss eine Facette ihres Lebens, doch trägt dies für die eigene Urteilsfähigkeit der Besucher/innen wenig bei, sondern lediglich zur Ikonisierung Arendts. So entsteht in der Ausstellung zwar das Bild einer unabhängigen, sich der Vereinnahmung verweigernden Frau. Durch eine präzisere, bisweilen auch theoretischere Hinterfragung ihrer Urteile wäre Arendts intellektuelle Bedeutung für das 20. Jahrhundert noch deutlicher geworden.