Die ersten Anzeichnen waren schon im Herbst festzustellen, nun werden die Symptome von Woche zu Woche auffälliger, und was wir bisher sahen, war noch gar nichts: Die Luxemburger Politik ist dabei, in eine merkwürdige Form von aufgeregtem Abwarten, in eine bizarre Mischung aus Schreckensstarre und panischem Auf-der-Stelle-Treten zu verfallen. Dies könnte das prägende Moment dieses ganzen Vorwahljahrs werden, wenn in den kommenden Monaten das Rätselraten in den Dorfschänken, den Parteien, der in- und ausländischen Presse zum Dauerthema wird: Geht er oder geht er nicht? Und die Wahlkampfvorbereitungen für nächstes Jahr müssen einstweilen mit einer A- und einer B-Option getroffen werden: mit oder ohne Juncker.
Das Klima wird an den eigenartigen Herbst 1994 erinnern. Damals war Jacques Santer gerade wieder zum Staatsminister gewählt worden und nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen eröffnete er seiner Parteibasis als erstes, dass er abgeworben wurde, um Präsident der Europäischen Kommission zu werden. Das weitere halbe Jahr bis zu seiner Abfahrt nach Brüssel 1995 saß die Luxemburger Politik mit ihm auf den Koffern und wartete.
Wie 1994 könnte es auch 2009 passieren, dass die Europäische Union die Innenpolitik weit mehr verändern wird als die Parlamentswahlen. Doch gibt es auch Unterschiede: die Ungewissheit – nicht auf einen Abgang, sondern auf eine Entscheidung wird gewartet – und die bevorstehenden Wahlen – 1994 wurde nach den Wahlen gewartet.
Vielleicht sind auch die Protagonisten dieser beiden Dramen nicht ganz vergleichbar. Denn weit mehr als sein Vorgänger dominiert der augenblickliche Regierungschef alle Bereiche der Luxemburger Politik. 1994 war die CSV unter Jacques Santer deshalb zufrieden, nur ein wenig die Wahlen verloren zu haben, 2009 befürchtet sie ohne Jean-Claude Juncker eine mittlere Katastrophe. Umgekehrt proportional sind zwangsläufig die Erwartungen der anderen Parteien.
Denn ohne ihren zugleich bewunderten und gehassten Star läuft die CSV Gefahr, den durch Juncker unterbrochenen Abstieg zu einer In-die-20-Prozent-Partei wie die anderen fortzusetzen. Das wäre das Ende des CSV-Staats. Doch selbst ohne diesen endgültigen Abschied vom 20. Jahrhundert bedeutete die Ablösung des bekennenden Herzjesumarxisten Jean-Claude Juncker beispielsweise durch seinen rechtsliberalen Haushaltsminister Luc Frieden auch eine politische Kursänderung, noch ehe das Wahlvolk zur Urne geschritten wäre.
So ist es nur zu verständlich, dass die Politik während der längsten Zeit dieses Jahres Gefahr läuft, von der Frage gelähmt zu werden, ob Jean-Claude Juncker erster ständiger Präsident des Europäischen Rats wird; sie mit jeder Wahl, jedem Referendum, jedem Gipfel in Europa hofft und bangt; sie sich mehr um die mögliche Nachfolge als um die laufenden Staatsgeschäfte kümmert.
Das darf man dem Betroffenen allerdings nicht zum Vorwurf machen. Denn auch er ist nicht Herr über sein Schicksal. Die vertrackte Situation lösen könnte Juncker nur selbst, wenn er umgehend öffentlich erklärte, auf keinen Fall für das neue Amt zur Verfügung zu stehen. Was er bezeichnenderweise nicht tut. Aber das verlangen, nicht zuletzt aus Eigeninteresse, nicht einmal seine politischen Gegner von ihm. Und selbst das wäre keine Garantie, wie die Geschichte von Jacques Ich-war-nicht-Kandidat Santer lehrt.