Über Nacht, genauer: in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch, ist Luxemburg anscheinend zu einem der gesellschaftspolitischen Vorreiter in Europa geworden. Es weiß bloß nicht, wie ihm geschehen ist. Denn das ist nicht so seine Art.
Wie sich im Parlament eine Mehrheit zur Legalisierung der Sterbehilfe bilden konnte, lässt sich bereits am Abstimmungsergebnis ablesen. Denn das Ergebnis zeigt, dass die Monate lang nachgebetete Behauptung, die Meinungsverschiedenheiten über die Euthanasie gingen „quer durch alle Parteien“ und hätten deshalb nichts mit Politik zu tun, selbstverständlich irreführend war.
Angefangen hatte es mit der noch einmal vom CSV-Fraktionssprecher unmittelbar vor der Abstimmung betonten Befreiung der Abgeordneten vom Fraktionszwang. Gemeint war vielmehr die Befreiung vom Koalitionszwang. Weil CSV und LSAP keinen Kompromiss in der Frage finden konnten, war die Befreiung vom Fraktionszwang die Zauberformel, mit der die Abgeordneten der beiden Regierungsparteien gegeneinander stimmen konnten, ohne dass die Koalition Schaden dabei nehmen musste.
Dass die Dauerregierungspartei CSV trotzdem sauer ist, weil sie in die Minderheit versetzt wurde und dies ausgerechnet in einer Frage, deren Bedeutung sie aus ethischen und religiösen Gründen hervorzuheben nicht müde wurde, ist verständlich. Doch die Befreiung vom „Fraktionszwang“ genannten Koalitionszwang führte möglicherweise zum Gegenteil des erhofften Resultats. Anstatt dass der Graben durch das Parlament zwischen Regierungsmehrheit und Opposition verlief, wurde er nun, wie 1912, 1918, 1937, 1976, 1978... plötzlich wieder zwischen Linksblock und Rechtsblock aufgerissen.
Frei nach ihrem Gewissen fügten sich fast sämtliche Abgeordnete mit traumwandlerischer Sicherheit ihren alten, ideologischen Loyalitäten. Der links-liberale Block stimmte bei drei Enthaltungen geschlossen für den Gesetzesvorschlag und der Rechtsblock mit einer einzigen Ausnahme dagegen. Durch die Kammer verlief zwischen LSAP, DP und Grüne auf der einen Seite und der CSV auf der anderen Seite wieder der alte Kulturkampfgraben zwischen Klerikalen und Antiklerikalen, Konservativen und Liberalen. Er strukturierte die Luxemburger Politiker tiefer als die meisten anderen gesellschaftlichen Widersprüche und überstand sowohl das angebliche Ende der Ideologien wie auch alle Aggionamenti der CSV.
So wurde die Abstimmung vom Dienstag vor allem eine politische Niederlage für die katholische Kirche, ihr Flaggschiff d’Wort und den von ihnen unterstützten rechten Flügel der CSV. Auch wenn sie – etwa im Vergleich mit der hysterischen Kampagne gegen die Reform des Abtreibungsverbots vor 30 Jahren – diesmal nur noch sehr zurückhaltend gegen die Sterbehilfe mobilisieren wollten oder konnten. Aber erneut ist das passiert, was schon vor acht Jahren in der Debatte um Sanja Ivekovics Skulptur Lady Rosa of Luxembourg zu beobachten war: Die klerikale Rechte kann noch so laut schreien, es hört ihr kaum noch jemand zu.
Mehr noch als die 50 Prozent Parlamentarier, die für die Euthanasie stimmten, zeigen das aber die 78 Prozent Befürworter in der am Samstag veröffentlichten Meinungsumfrage des Tageblatts. Vielleicht hat sich die Luxemburger Gesellschaft emanzipiert, vielleicht ist sie bloß liberaler geworden.Texte