Europaparlamentarier

In der Strafkolonie

d'Lëtzebuerger Land vom 20.12.2007

Um nicht nur „politisch unkorrekt“ zu sein, sondern auch öffentlichkeitswirksam dazu zu stehen, hatte der sozialistische Europaabgeordnete Robert Goebbels diese Woche eine Pressekonferenz einberufen. Politisch unkorrekt lautet der Titel derbei dieser Gelegenheit verteilten neusten Nummer der Cahiers socialistes, in der der ehemalige Minister sich einiges „über die politische Klasse“ von der Seele schreibt, als ob er nicht dazu gehörte. 

Mit einigen gelungenen Formeln beklagt Goebbels in der schmalen Broschüre die weit verbreitete Angst vor der Zukunft, dem Klima, den Chinesen, den Indern, den Türken und der doppelten Staatsbürgerschaft. Er hört den allgegenwärtigen Ruf nachSchutz: „Klimaschutz, Umweltschutz, Tierschutz, Denkmalschutz“... Weil alles „sanft“ zugehen müsse, „von ‚sanften’ Energien über ‚sanfte’ Mobilität bis zum ‚sanften’ Tourismus“, finde „keine wirkliche politische Auseinandersetzung“ mehr statt (S. 3-4).Deshalb schlägt er vor, „die Marktmechanismen des freien Wettbewerbs durch sozialen Ausgleich zu korrigieren“ (S. 6) und verteidigt noch einmal die Energie- und Straßenbaupolitikgegen grüne Miesmacher.

Aber Robert Goebbels ist nicht der einzige Luxemburger Europaabgeordnete, der nach Wegen sucht, um seine Meinung an die Wähler zu bringen. Seine CSV-Kollegin Erna Hennicot- Schoepges, mit der er bis 1999 der Regierung angehörte, unterhält ein umfangreiches Weblog. Darin stellt sie moralisierende Betrachtungen über die Woche im Europaparlament, Erinnerungen an Dienstreisen des Kulturausschusses und Spirituelles an und verbindet sie mit Spitzen gegen Luxemburger Politiker, auch ihrer eigenen Partei. So wie Goebbels stolz „politisch unkorrekt“ sein will und damit vorgibt, etwas Unerlaubtes zu sagen, verspricht auch Hennicot-Schoepges ihren Lesern Unerlaubtes. Der Titel ihres Internet-Tagebuchs lautet: Wenn ich das Wort ergreifen dürfte..., so als habe ihr irgendjemand den Mund verboten. Schließlich hatte sie Anfang 2005 begonnen, auf www.ehennicotschoepges.lu ihr Herz auszuschütten, ein halbes Jahr nachdem sie ihren Ministerpostenverloren hatte. Daran sollte sie in einem späteren Eintrag erinnern: „Ee Joer ass et hier, haut op den Dag, zanter ech vu menger Partei gesot krut, ech hätt 62 Joer, ech misst elo op Stroossbuerg goen an d’EP. Mäi Virschlag, nach zwee an en halleft Joer an der Regierung meng Aarbecht fäerdeg ze maachen, ass op daf Ouere gestouss. Ech hu missen ewech, sinn no 32 Joer Aarbecht fir d‘CSV fortgeschécktginn, fir datt anerer d’Plaz kruten. Et huet wéi gedoen, an ech hunn et nach ëmmer net verquësst.”

Goebbels und Hennicot-Schoepges vereint, dass ihre politische Laufbahn einen Knick erlebt hatte: Der sozialistische Wirtschafts-, Bauten- und Transportminister war 1999 als Spitzenkandidatin die Wahlen gegangen, er stand für eine sehr sozialliberalePolitik und für eine LS@P, die ihre Arbeiterbewegungstradition hinter einem Klammeraffen im Namenskürzel verstecken wollte. Folglich verkörperte er die Wahlniederlage von 1999 und sein Gang nach Straßburg war auch ein Gang ins Exil. Erziehungs-, Kultur- und Bautenministerin Erna Hennicot-Schoepges war sogar CSV-Präsidentin, doch ihre Parteispitze machte sie unter anderem für Fehlentwicklungen in der Bautenpolitik verantwortlich und schob sie nach Straßburg ab.

Eine andereEuropaparlamentarierin, die CSV-Abgoerdnete Astrid Lulling, hat ebenfalls ein originelles Mittel gefunden, um sich jenes Gehör in der Öffentlichkeit zu verschaffen, das ihre Partei ihr nicht schenkt. Als LSAP- und SdP-Überläuferin ist sie ohnehin manchen Parteikollegen suspekt, und die inzwischen 78-Jährige muss sich vor jeder Wahl mit Händen und Füßen gegen all jene in der Partei wehren, die sie in Pension schicken wollen. Interviewt Goebbelsmanchmal Straßburger Kollegen auf Den oppene Kanal (Dok), so kommentiert die CSV-Politikerin als Astrid-Lulling-TV vor laufender Kamera die Aktualität in Straßburg und zu Hause. Mir der Selbstverständlichkeit des gesunden Menschenverstands betreibtsie Lobbyismus für sich, den Weinbau und die Bienenzucht undpredigt ihr stramm rechtes Weltbild. Die Beiträge können wahlweise über Dok, YouTube und astridlulling.com eingesehen werden, und wem das noch nicht genügt, der kann sich auch eine erste DVD mit den größten Hits von Astrid-Lulling-TV anschaffen.

Sicher, nicht alle sechs Europaparlamentarier schreiben, blogen undfilmen wie wild. Jean Spautz (CSV) zieht sich tatsächlich langsam zugunsten seines Sohnes aus der Politik zurück. Lydie Polfer (DP) markiert als neue hauptstädtische Schöffin gerade ihre Rückkehr in die nationale Politik, und Claude Turmes (Grüne) versteht es, unabhängig von seiner Partei in die nationalen Medien zu drängen.Doch von den nationalen Parlamentariern, selbst jenen, die nicht zum Dutzend Dauergästen von Presse und Rundfunk gehören, hat kaum einer ein so großes persönliches Mitteilungsbedürfnis wie die Europaparlamentarier und schon gar nicht so viel Fantasie, umsich durch neue Kanäle Gehör zu verschaffen. Aber ein nationaler Abgeordneter ist einer unter 60, eng am Puls der Wähler. Ein Europaparlamentarier ist dagegen einer unter 785, fern der Heimatund manchmal sogar von der eigenen Parteipresse im Stich gelassen.Deshalb ist seine Flaschenpost auch immer ein Hilferuf nach Hause: „Bitte, vergiss mich nicht!“ 

 

Romain Hilgert
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