Während des gerade begonnenen Jahres wird immer wieder an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erinnert werden. Die Gedenkindustrie arbeitet schon seit Monaten auf Hochtouren. Sie interpretiert mit Hilfe der plattesten aller Denkformen, der Analogie, die Geschichte für jede Epoche neu, um die Gegenwart zu bestätigen. Wochenlang warb Jean-Claude Juncker in Ansprachen und Interviews für Florian Illies 1913: Der Sommer des Jahrhunderts als Menetekel unserer angeblich aller verantwortungslosen Unbekümmertheit. Im Kalten Krieg hatte Barbara Tuchman mit The Guns of August den Beginn des Ersten Weltkriegs als Blockkonfrontation und das Attentat von Sarajewo als vermurkste Kubakrise beschrieben. In Zeiten des Kriegs gegen den Terrorismus beschreibt nun der australische Historiker Christopher Clark in seinem Bestseller The Sleepwalkers ein habsburgisches 9/11, das zu einer Verknüpfung unglücklicher Umstände führte, bis die Staatsmänner und Offiziere aller Nationen, ohne es zu merken, einen Weltenbrand ausgelöst hatten. 17 Millionen Tote und keiner will es gewesen sein. Gäbe es da nicht Karl Kraus.
Das neutrale Luxemburg wurde im Sommer 1914 von Deutschland überfallen, das seit 1893 aufgerüstet hatte, um nach einer verspäteten Nationenbildung endlich seinen „Platz an der Sonne“ zwischen den anderen imperialistischen Mächten zu erobern. Das Deutsche Heer war an Luxemburg als Durchmarschgebiet für den Angriff auf Frankreich und an seiner für die Rüstung wichtigen Schwerindustrie interessiert. Doch in der Luxemburger Geschichtsschreibung bleibt der Erste Weltkrieg weitgehend ein weißer Fleck. Außer einigen Erlebnisberichten gibt es kaum Literatur zum Thema. Tatsächlich beging das Deutsche Heer hierzulande keine massiven Kriegsverbrechen wie in Belgien, und die über 700 000 Opfer der Schlacht von Verdun starben 100 Kilometer vor der Luxemburger Grenze. Deutschland errichtete auch nicht, wie im Zweiten Weltkrieg, eine faschistische Diktatur, die ungleich mehr Leid über das Land brachte und heroische Erzählungen vom Kampf zwischen einem guten kleinen und einem bösen großen Nationalismus inspirierte.
Dass der Véierzéngter-Krich in der hiesigen Literatur bis heute weitgehend ein weißer Fleck blieb, hat aber vor allem mit der für die vaterländische Geschichtsschreibung unbeschreiblichen Rolle der herrschenden Kreise zu tun. Zum Zeitpunkt des Überfalls gehörte Luxemburg längst zum deutschen Zollverein, deutsches Kapital kontrollierte die Schwerindustrie und das Eisenbahnnetz. Linksliberale bis rechte Minister regierten während des ganzen Kriegs unter deutscher Militäraufsicht weiter, als ob nichts geschehen wäre. Die Großherzogin hofierte das deutsche Kaiserhaus, und die katholische Kirche betete auf Deutsch, während das Giftgas über den Schützegräben wehte.
Das Staatsoberhaupt, die Regierungen, das Großbürgertum und der Klerus beugten sich keineswegs bloß ohnmächtig der Macht der militärischen Gewalt, sondern fühlten sich, trotz der in Artikel eins der Verfassung dekretierten ewigen Neutralität, aus politischen und ökonomischen Interessen auf der Seite der Mittelmächte und waren zu klug, um sich dessen nicht bewusst zu sein. Hätten sich die Siegeschancen des Deutschen Heeres nicht verschlechtert, hätten sie sicher dem von Reichskanzler von Bethmann Hollweg geplanten schrittweisen Anschluss als neuer Bundesstaat nicht nur Negatives abgewinnen können. Nach dem Kriegsende ließ sich die siegreiche Entente nicht irreführen und sah folglich das Großherzogtum als erobertes Gebiet an, das seine Neutralität und Souveränität aufgegeben hatte. Dass das kein Missverständnis war, zeigte sich in den ersten Wochen nach dem deutschen Überfall im Zweiten Weltkrieg, als die verbliebenen Parlamentarier versuchten, die offenbar als positiv angesehene Erfahrung des Ersten Weltkriegs zu wiederholen.