Fällt der Blick zurück auf die 170 Jahre, seit der damals noch junge Luxemburger Staat mit dem Schulgesetz vom 26. Juli 1843 sich der Förderung der französisch-deutschen Zweisprachigkeit verschrieben hatte, so muss man feststellen: Die Sprachenpolitik ist ein stark vernachlässigtes Politikfeld in Luxemburg. Dennoch macht die eher wildwüchsig gewachsene heutige Sprachensituation das Großherzogtum mit seiner einheitlichen indes mehrsprachigen Sprachgemeinschaft zum Musterknaben der EU. Die Tatsache, dass viele vom Sprachunterricht gebeutelte Schüler und deren Eltern diese geerbte Situation vor allem als Hypothek und nicht als Chance erleben, erklärt, weshalb einzelne Passagen des Regierungsprogramms der neuen Dreier-Koalition sich wie eine Absage an die Dreisprachichkeit lesen und nicht zu Unrecht bei manchen das Schreckgespenst einer in zwei Sprachgemeinschaften zerfallenden Gesellschaft heraufbeschwören: Hier die einheimischen deutsch-luxemburgisch Sprechenden, die sich hinter einer Sprachbarriere im öffentlichen Dienst und anderen parastaatlichen Sektoren einigeln, in denen die französische Gesetzessprache zur verknöcherten, nur formelhaft gemeisterten toten Behördensprache verkommt. Dort die „Frankophonen“, denen man in der Privatwirtschaft sowohl die Führungsplätze in den globalisierten Unternehmen als auch die zunehmend prekarisierten Ausführungsjobs in Industrie und Dienstleistungsgewerbe überlässt.
Anlässlich des 60. Jubiläums des Lëtzebuerger Land wollen wir einen Blick zurückwerfen auf dessen ersten Jahrgang und die Sprachdebatten, die dort geführt wurden zu einer Zeit, in der die Sprachenpolitik des Großherzogtums an ihrem Nullpunkt angelangt war. Wir tun dies in der Hoffnung, dass die heute mehr denn je notwendigen sprachpolitischen Entscheidungen endlich getroffen werden.
Die erste Verfassung des Großherzogtums definierte 1848 Luxemburg als zweisprachiges Land mit Deutsch und Französisch als gleichberechtigten Sprachen, obwohl nur ein marginaler Teil der Bevölkerung die Sprache Molières beherrschte. Der Clerfer Friedensrichter Alphonse Funck schätzte im Jahre 1863, die Zahl der „citoyens capables, consciencieux, éclairés, honorables, possédant suffisamment les deux langues, notamment la langue française, la langue véhiculaire la plus usuelle de nos débats judiciaires“ auf 5001. Selbst wenn man diese Zahl verdoppelt, entspricht dies circa einem Prozent der männlichen Bevölkerung. Die übergroße Mehrheit ließ die „Tortur“ des Französischunterrichts ohne großen Gewinn über sich ergehen, weil sie diese zunächst von der Machtelite aufgezwungene Sprache im Laufe der Zeit als Symbol der politischen Unabhängigkeit und als Schutzschild gegen eine drohende deutsche Annexion akzeptierte.
Parallel dazu entwickelte sich jedoch völlig ungeplant eine die vielen Dialekte überdachende luxemburgische Verkehrssprache, ohne dass dieser Prozess richtig verstanden werden konnte; dafür war das damalige Denken zu sehr durch eine ahistorische Sicht der Sprache geprägt. Durch ihre vermeintliche Zeitlosigkeit und Unveränderbarkeit galt Luxemburgisch als Garant der Eigenstaatlichkeit. 1903 hatte Staatsminister Eyschen die Luxemburger Sprache als uralte heilige Eiche bezeichnet: „Keng Mënschenhand huet (den alen, hellegen Eechebam) geplanzt, zënter dausend Joër gruewen sech séng Wuerzelen an onst Land.“ Und 1939 suchten die Luxemburger in einem verzweifelten Sprachpatriotismus Schutz unter dieser Eiche. Während der Nazibesatzung wurde die Luxemburger Sprache zum „Symbol des Luxemburgertums“ und feierte „nach einem vierjährigen Katakombendasein (eine) lichtvolle Auferstehung“, wie Carlo Hemmer, der spätere Gründer des Letzeburger Land 1946 schrieb2. Das Buch, aus dem dieser Satz stammt, wird er nie veröffentlichen. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand wird sich wohl auch eine emotionale Distanz zu der eigenen sprachpatriotischen Begeisterung in dem vor der Besatzung fast fertiggestellten Manuskript eingestellt haben. Später wird er von der „Zweisprachigkeit“ des Landes sprechen und der „Vermittlermission, die uns unsere geographische und geistige Lage zwischen den Nationen zuweist“3 und damit den Sprachenstatus des Luxemburgischen implizit negieren, wie dies in den 1950-er Jahren wohl die Mehrheit der Gebildeten im Bewusstsein um dessen funktionellen Begrenztheit getan haben.
Sprachenpolitik und Sprachenplanung unterscheiden zwei Aspekte. Einerseits die Pflege der Sprache als solcher, die sogenannte Korpusplanung, die mit Hilfe von Grammatiken und Wörterbüchern die Sprache standardisiert, um sie in einem historischen Zustand zu erhalten oder um sie gezielt weiterzuentwickeln, etwa durch Schaffung von Neologismen oder gar Rechtschreibreformen. Auf der anderen Seite die Statusplanung, die einer Sprache gewisse Funktionen in der Gesellschaft zuweist, Amtssprachen definiert, aber auch Minderheiten schützt. Die Ablehnung alles Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg war so groß, dass man der luxemburgischen Sprache schriftsprachliche Funktionen, zum Beispiel als Zeitungssprache zuschrieb, denen sie nicht gewachsen war. Die weitest gehende Korpusplanungsmaßnahme der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Einführung im September 1946 einer neuen, sich möglichst weit vom deutschen Schriftbild entfernenden Rechtschreibung (Ofizièl Lezebuurjer Ortografi) und die weitest gehende Statusplanungsmaßnahme war 1948 die Streichung der Zweisprachigkeit aus der Verfassung und deren Ersetzung durch die Ankündigung eines den amtlichen Sprachgebrauch regelnden Gesetzes. Nach 100 Jahren war Luxemburg offiziell kein zweisprachiges Land mehr. Beide Maßnahmen führten jedoch in eine Sackgasse und stehen am Beginn von zwei Jahrzehnten sprachenpolitischen Stillstands, der erst mit der Gründung der Actioun Lëtzebuergesch 1971 ein Ende nehmen wird.
Gleich in der zweiten Nummer der neugegründeten Wochenzeitung erscheint ein Artikel zur Luxemburger Sprache von Robert Bruch, der mit seiner allgemein geschätzten Doktorarbeit den ersten Rang unter den Sprachwissenschaftlern seiner Zeit errungen hatte und als fester Mitarbeiter im Letzeburger Land unter dem Titel „Luxemburgisch für Fortgeschrittene“ mehr oder weniger ironische sprachpflegerische Glossen publizieren wird. In diesem ersten Artikel liefert er Programmatisches und gibt Einblick in die ambivalente Position zur Sprachenfrage, die eine ganze Generation von Luxemburger Intellektuellen und insbesondere die Sprachwissenschaftler unter ihnen zerreißt. Dabei geht es um den Status des Luxemburgischen und die Definition dessen, was eine Sprache ausmacht. Während die übergroße Mehrheit der Einwohner des Großherzogtums auf Grund des realen alltäglichen Sprachgebrauchs und der Kriegserfahrung Luxemburgisch als Sprache empfindet, bleibt der wissenschaftliche Diskurs einem essentialistischen Sprachbegriff verhaftet, der nur sprachimmanente Kriterien kennt. Er vertritt gar die Theorie, dass die Völkerwanderungen des ersten Jahrtausends – die „Siedlungs- und Kulturströmungen“, wie er sagt – noch immer in der Sprache nachwirken und diese letztlich bestimmen. Bruch ist sogar überzeugt, dass die Luxemburger Mischkultur nicht ein nachträgliches Amalgam beider Hochkulturen ist, sondern beiden vorausgeht: das Luxemburger Volk „lebt somit im Pulsschlag einer Zweisprachigkeit, die urtümlicher ist als die Trennung der beiden Kulturen, die später aus ihr erwachsen und heute als deutscher Geist und esprit français scheinbar unversöhnlich aufeinanderprallen.“4
Die ganze Ambivalenz dieser Theorie kommt gleich am Anfang des ersten Bruch-Beitrags im Land zum Tragen, wenn er schreibt: „Unsere Sprache? Am besten wird sie durch das Paradoxon gekennzeichnet, daß sie uns selbst das unbestreitbarste Unterpfand unserer Eigenstaatlichkeit dünkt, zugleich aber den Bauherrn eines deutschen Reichs als der sicherste Beweis unseres deutschen Volkstums gegolten hat. An ihr offenbart sich die auffällige Erscheinung, wie zwei unvoreingenommene wissenschaftliche Disziplinen zu diametral entgegengesetzten Befunden kommen können.“5
Mit den zwei Disziplinen sind Psychologie und Sprachwissenschaft gemeint, und man hat den Eindruck, dass Bruch selber mit einer durch ihre Nähe zur Volkstumsideologie diskreditierten Sprachwissenschaft gegen die eigene patriotische Erfahrung argumentiert. Gegen die Psychologie und damit seine Gefühle fühlt sich Bruch genötigt, „der linguistischen Wahrheit die Ehre geben“6 und daran festzuhalten, dass „wir, wie Eupen-Malmédy, das Elsaß und die meisten Schweizer Kantone zum deutschen Sprachgebiet (gehören).“ Dieser erste Artikel mündet in der Aussage, dass der in der Luxemburger Volksseele wirkende „unerschütterliche Individualismus“, der sich zum Beispiel in der „endlosen Kette von Rechtschreibungsvorschlägen“ ausdrückt, die Entstehung einer einheitlichen „Luxemburger Kanzlei- oder Literatursprache“ verunmöglicht.
Dabei müsste es Bruch auf Grund seiner vielen feinsinnigen Beobachtungen des alltäglichen Sprachgebrauchs eigentlich besser wissen. Aber sein Glaube an die Existenz von ahistorisch wirkenden Volkseigenschaften – den er unter dem Titel „Der Luxemburger Geist“ in einem ganzseitigen Artikel bekundet7 – hindert ihn daran, den Anschluss an die sich neu entwickelnde Soziolinguistik zu finden, wie wir weiter unten zeigen werden. Die „fortschreitende Verselbständigung unseres Idioms“, die er wohl beschreibt, bleibt für ihn eine reine Äußerlichkeit, die nichts an der wahren Bestimmung des Luxemburgischen als deutschem Dialekt ändert. Dass Luxemburgisch 1945 zum Fach in der Mittelschule erhoben wird und im Curriculum unter der Bezeichnung „Langue luxembourgeoise“ aufgeführt wird, kritisiert er im Letzeburger Land und findet dafür im Journal des professeurs noch schärfere Worte, indem er die Luxemburger Sprache mit dem Märchen vom Storch gleichsetzt: „In einer gedankenarmen Nachkriegsmorgendämmerung konnte (die Vorstellung, Luxemburgisch sei eine Sprache, FF) vorübergehend als das willkommene Eiapopeia gelten, womit man einlullt, wenn es greint, das Volk, den großen Lümmel — um mit HEINE zu reden. Es sei zwar zugegeben, daß das Märchen vom Storch immer noch am bequemsten über die heikelsten Fragen der Kinderstube hinweghilft — als Basis eines ernsten Biologieunterrichts dürfte es (anerkanntermaßen) unbrauchbar sein.“8
Auch wenn die Wenigsten, damals wie heute, Bruchs Theorien kennen und nachvollziehen können, teilen viele – und das auch noch heute – seine Befürchtung, dass eine Überbetonung oder gar Förderung der „Einsprachigkeit des mundartlichen Alltags“ die „weltoffene kulturelle Zweisprachigkeit“ und damit den eindeutigeren „Unterpfand des politischen Eigenbestandes“ Luxemburgs bedrohen würde.
Während Bruch auf die „weltoffene kulturelle Zweisprachigkeit“ setzt, um die Eigenheit der Luxemburger Kultur und damit die politische Eigenständigkeit zu erhalten, erhoffen sich die Frankophilen dasselbe von einer Hinwendung zu Frankreich und dessen Sprache. Sie sind in der SELF, der Société des écrivains luxembourgeois de langue françaises, organisiert, deren Mitgliederkreis sich nicht auf Schriftsteller als aktive Mitglieder beschränkt. Marcel Noppeney, der selber als Luxemburger in eine französischsprachige Notabelnfamilie hineingeboren wurde und Zeit seines Lebens gegen den deutsche Pangermanismus angekämpft hatte, was ihm einen Gefängnisaufenthalt während des Ersten und einen KZ-Aufenthalt während des Zweiten Weltkrieges eingebracht hatte, war der bekannteste Wortführer der Frankophilen Luxemburgs. Seinem Hass gegen die Nationalsozialisten und seiner Ablehnung alles Deutschen gab er in unzähligen Polemiken freien Lauf, die er sogar in zwei Bänden unter dem Titel „Contre-eux“ veröffentlichte. Als Vorsitzender der SELF hatte er im Dezember 1953 eine Rede gehalten, die im ersten Jahrgang des Letzeburger Land mehrfach zitiert wird. Die in einem markanten Satz zusammengefasste Zielsetzung der Vereinigung wurde besonders hervorgehoben: „Faire de la langue française l’instrument principal de la pensée luxembourgeoise.“ Und: „La connaissance, l’emploi, le culte de la langue française“ – man beachte die Steigerung in dieser Aufzählung – sei Luxemburgs einzige intellektuelle Überlebenschance („notre unique sauvegarde intellectuelle“).9
Zeitlebens blieb Noppeney in einer grob vereinfachenden Dichotomisierung gefangen, als gäbe es nur eine französische und eine deutsche Kultur und Denkungsart, die sich monolithisch gegenüberstehen. Da eine doppelte Zugehörigkeit zu den beiden Kulturen und Denkungsweisen unmöglich sei, selbst wenn man beide Sprachen beherrsche, könne der Luxemburger sich nur gegen das deutsche und für das französischen Denken, das ihm sowieso aus historischen Gründen näher stünde, entscheiden: „Le Luxembourgeois, s’il est bilingue, n’est toutefois pas bicéphale. Il n’a pas deux cerveaux.“
In seinem ersten Letzeburger Land-Beitrag entwickelt er die These, die Luxemburger Sprache würde unter der Präsenz der deutsche Hochsprache leiden, und folgerichtig brandmarkt er deutsche Predigt, deutschen Religionsunterricht, deutschen Schulunterricht, Presse in deutscher Sprache und deutsche Einwanderung als todbringende Einflüsse auf das Luxemburgische. Die ursprüngliche Mundart habe sich im Arloner und Didenhofer Land besser als in den früheren Luxemburger Territorien jenseits von Our und Sauer erhalten, argumentiert er. Deshalb solle man auch im Großherzogtum, so wie es im „Luxembourg belge“ und im „Luxembourg lorrain“ der Fall ist, dem Französischen die erste Stelle im Unterricht einräumen und das Deutsche nur als zweite Sprache oder gar als Wahlfach unterrichten. 10
Darauf antwortet Ed Kohl auf Luxemburgisch11, nicht ohne sich dafür zu entschuldigen, da es der gute Ton eigentlich verlangen würde, dies auf Französisch zu tun, und schreibt damit (vermutlich) den einzigen luxemburgischen Sachtext des ersten Jahrgangs der Wochenzeitung. „Wa mer och ke Preis kënnen ausstoen, duerfir kenne mer awer nach emmer Deitsch le’eren.“ Die Erfahrung der ersten Nachkriegsjahre, in denen das Deutsche in der Primärschule vernachlässigt wurde und die Tatsache, dass die Gymnasialschüler selbst nach dem Abitur noch schlecht Französisch reden, sei ein Beweis für die Nicht-Umsetzbarkeit des Vorschlags: „Da kinnte mer weder Deitsch nach Franse’sch nach soss eng Weltsprôch.“ Und weshalb sollte man freiwillig auf das einfache Erlernen einer Sprache verzichten, die einem Zugang zu Autoren wie Goethe, Schiller, Rilke oder Hesse gewähren würde?
Gleich nach dem Erscheinen von Noppeneys Rede in den Pages de la SELF greift Bruch sie auf, um den Frankophilen auf den Boden der sprachlichen Realitäten zurück zu holen und ihn als Verbündeten im Kampf für die Zweisprachigkeit zu gewinnen: „Wenn dieses Programm auch nur halbwegs verwirklicht würde, etwa so, daß jeder Luxemburger gleicherweise des Französischen und des Deutschen mächtig wäre (…), dann wäre zweifelsohne eine tüchtige Strecke auf dem Weg zur Vertiefung unserer nationalen Eigenart zurückgelegt. Vorläufig aber bleibt immer noch die Mundart, unsere einzige, alleinherrschende Umgangssprache, der greifbarste Ausdruck dieser Eigenart, unser offizieller Bilinguismus aber vorderhand eine Bildungsangelegenheit und als solche in den breitesten Schichten kaum noch verschwommen zu fassen.“12
Die Vorstellung, die Präsenz der beiden Hochsprachen schade der Luxemburger Mundart, teilt er dabei mit Noppeney: „Unsere Mundart scheint sich überhaupt immer mehr auf einen scharf umrissenen Vorrat luxemburgischer Lautgewohnheiten zu reduzieren, denen wir deutsche oder französische Vokabeln, jedesmal wenn wir in Not geraten, schnurstracks unterwerfen, ohne uns erst auf das zutreffende luxemburgische Wort zu besinnen.“13 Diese Sorge um die Bewahrung der geerbten Sprache findet sich auch bei dem Bruch-Schüler Fernand Hoffmann, der sogar eine mangelhafte Beherrschung des Luxemburgischen bei „unsern sogenannten Heimatdichtern“ ausmacht. Ihm zufolge beherrschen sie „Deutsch, Französisch, ja sogar Latein und Griechisch besser als die Sprache, die sie in Verse zwingen“14 wollen. Auch habe der Versuch, unmittelbar nach dem Krieg Tageszeitungen auf Luxemburgisch zu publizieren, Sätze produziert, die „von fern an Luxemburgisch gemahnen“, syntaktisch aber Hochdeutsch waren und einen „kunterbunten Mischmasch unserer beider Nachbarsprachen“ als Wortschatz benutzten.15 Noppeney, Bruch und Hoffmann trauern gemeinsam den vergessenen Wörtern, Ausdrücken und Redeweisen, also einer als ursprünglich und rein empfundenen Sprache nach. Mit Ed Kohl kann man ihnen entgegnen, dass das Luxemburgische als lebendige Sprache sich sowieso weiterentwickelt.16 Und diesen Prozess untersuchte mittlerweile auch die Sprachwissenschaft. So publiziert 1952 Heinz Kloss ein richtungweisendes Buch unter dem Titel Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen von 1800 bis 1950, in dem das Luxemburgische gebührende Erwähnung findet.17
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die auf die deutsche Romantik zurückgehende Vorstellung, dass Sprechen und Denken innig miteinander verbunden sind und dass sich in der Sprache die Seele des Volkes äußert, in der Sprachwissenschaft keinen Bestand mehr haben. Bruch wird aber in seinen wissenschaftlichen Schriften und in seinen essayistischen Werken weiter daran festhalten, so auch in dem bereits zitierten Land-Artikel „Vom Luxemburger Geist“. Die Wissenschaft wird sich jetzt den unendlichen Varietäten der sprachlichen Äußerungen zuwenden und die Einzelsprachen nur mehr als gedachte Abstraktion aller Varietäten einer Sprachgemeinschaft verstehen. Die standardisierte Hochsprache kommt dieser natürlich näher als der Slang einer jugendlichen Peer-Group, aber beide sind letztlich nur, wenn auch gesellschaftlich verschieden bewertet, mit einem unterschiedlichen sprachlichen Kapital versehene Varietäten einer Sprache. Kloss hat 1952 darauf hingewiesen, dass die wenigsten Sprachen sich so von ihren Nachbarsprachen ausreichend unterscheiden, um nach sprachimmanenten Kriterien als eigenständig definiert werden zu können. Er nennt diese Abstandssprachen und verweist auf Baskisch als Beispiel. Meistens sind die Sprachen entstanden, indem sie aus politischen oder anderen historischen Gründen ein dialektales Kontinuum durchschnitten haben; er nennt diese Ausbausprachen und beschreibt Luxemburgisch als eine im Ausbau begriffene Sprache, die das Stadium der „Halbsprache“ erreicht hätte.
Liest man etliche Sätze in Bruchs-Beschreibung der Luxemburger Sprachgeschichte könnte man meinen, er stehe voll hinter der Klossschen Ausbau-Theorie: Er spricht18 von einer „luxemburgischen Hochsprache“, die „schon in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts allmählich Gestalt zu gewinnen“ beginnt, aber „auch heute immer noch nicht am Ende ihrer langwierigen Entwicklung angelangt“ ist. Er übernimmt die Argumentation von Engelmann, der diesen Prozess 1915 beschrieben hatte und „die damals im Entstehen begriffene Luxemburger Durchschnittssprache“ (Bruch) Koiné genannt hatte. Er kritisiert „unsere Mundartdichter“, zum Beispiel Meyer, Dicks und Lentz, Rodange, Willy Goergen und Ferdinand Gremling, die dem „von ihnen immer wieder herbeigesehnten Vorgang (… der) endgültigen Sprachwerdung“ entgegenwirken, indem sie ihre regionale Eigenheiten kultivieren. Durch die puristische Pflege von sprachlichen Wortfossilien, dem Beharren auf „längst verblühten ländlichen Lokalausdrücken“, „hemmen (sie) immer wieder die Herausbildung einer gemeinluxemburgischen Umgangssprache“. Er lobt jedoch Ry Boissaux für ihren Rückgriff auf eine „Allerweltssprache (…), die am Rande der Hauptstadt, zwischen dem Wasserturm auf dem Papierberg und dem Glacis, mitten im Brutkasten des gängigsten Basic Luxemburgish, im Entstehen begriffen ist“. Damit hätte sie das erste Buch „in gemeinluxemburgischer Alltagssprache“ geschrieben: „Die Luxemburger Koine — hier ist sie endlich salonfähig und adrett, endgültig befreit vom schummerigen Mummenschanz längst verschollener Uchten.“
Trotz dieser „eindringlichen Daten“ scheint ihm Kloss‘ Einschätzung zu optimistisch, da diese Äußerlichkeiten nichts an der tieferen Struktur der Sprache und des „Luxemburger Geistes“ ändern können. „Wiewohl die Etikette ‚Halbsprache‘, mißverstanden, unsere bittersten Protestrufe weckte, müssen wir nach etlichem Überlegen letzten Endes kleinlaut zugeben, daß sie noch, so wie sie gemeint war, viel zu schmeichelhaft ausgefallen ist.“19
„Die Geburt einer Kultursprache geschieht nicht auf Grund eines nationalen Willensaktes“,20 schrieb Bruch, das Scheitern der Rechtschreibreform von 1946 kommentierend. Sie geschieht sicher nicht durch eine zu kurz greifende, hauptsächlich symbolische Geste. Eine solche ist auch die Einschreibung des Luxemburgischen als Nationalsprache in die Verfassung, auf die sich die politischen Parteien mittlerweile geeinigt haben. Und eigentlich auch das Gesetz zum Sprachgebrauch von 1984, das erst 36 Jahre nach der von der Verfassungsänderung von 1948 geschaffenen sprachpolitischen Leerstelle verabschiedet wurde. Nicht als sprachpolitischer Akt, sondern als Reaktion auf einen Artikel der neonazistischen Deutschen Nationalzeitung, dessen Titel die Stoßrichtung zusammenfasst: „Luxemburgs Selbstverleugnung: Flucht des Miniaturstaates aus der deutschen Identität“.
Dieses Gesetz beschränkt sich auf eine Statuszuschreibung für die drei Sprachen ohne irgendwelche sprachenplanerischen Maßnahmen, damit diese die ihnen zugeschriebenen Funktionen auch erfüllen können. Dies gilt insbesondere für das ohne weitere korpusplanerische Maßnahmen zur Amtssprache ernannte Luxemburgisch. Fernand Hoffmann lehnte das Gesetzt ab und bescheinigte, „daß Laien und Amateure am Werk waren.“21 Er vermisst die Namen der Fachgrößen im Exposé des Motifs und zählt neben Kloss und dem Pionier der Sprachenplanung Einar Haugen noch ein halbes Dutzend Wissenschaftler auf, deren Erkenntnisse es zu berücksichtigen gelte. Er unterstellt den Volksvertretern sogar, „sie hätten ein Gesetz in der Hoffnung votiert, daß es nicht durchgeführt werde“. Hoffmann steht ihm kritisch gegenüber, hauptsächlich weil er, genau wie Bruch, einen weiteren Ausbau der Luxemburger Sprache ablehnt, wie das damals viele in der alten Mischkultur-Vorstellung gefangene Gebildete taten, die in der Förderung des Luxemburgischen ein „Ende der romanisch-germanischen Doppelkultur“ sahen.
Auch wenn seither einige sprachenplanerischen Maßnahmen eingeleitet wurden (man denke an das Gesetz über den Congé linguistique oder an die Schaffung des CPLL), ist der weitere Ausbau des Luxemburgischen zur Vollsprache wildwüchsig, jedoch mit großen Schritten weitergegangen. Eine gezielte Sprachenpolitik mit ihren logischen Etappen – Feststellung der Sprachensituation; demokratisch legitimierte Übereinkunft über die Ziele mit anschließender Implementierung der erforderlichen Maßnahmen – lässt aber immer noch auf sich warten.