Wieder einmal steht der europäi-sche Integrationsprozess zur Debatte. Wirtschaftskrisen bringen die Konfrontation zwischen nationalstaatlichen und supranationalen Interessen und Kompetenzen ins Gespräch: Welche Kompetenzen hat der Nationalstaat an die EU abgegeben? Welche Verpflichtungen erwachsen daraus? Der erste Aspekt betrifft den europäi-schen Integrationsprozess, die Entscheidungen für ein gemeinsames Regelwerk, die die Mitgliedsstaaten (MS) im Rahmen eines Bottom-up-Prozesses treffen, der von ihnen ausgeht und auf EU-Ebene endet. Dieser Teil der Integration hat eine Reihe von wissenschaftlichen Analysen zur Folge gehabt. Seit einigen Jahren steht jedoch der Europäisierungsprozess stärker im Mittelpunkt wissenschaftlicher Analysen. Hier geht es um die Umsetzung europäischen Rechts oder gemeinsamer Politiken innerhalb der MS. Es handelt sich dann um einen Top-down-Prozess, bei dem die Auswirkungen des Europarechts auf den Nationalstaat untersucht werden. Wir beschränken uns hier auf diesen zweiten Strang.
Im Rahmen der Europäisierungsstudien wurde anfangs die Position des Nationalstaats als schwach betrachtet: Er musste ausführen, was auf EU-Ebene beschlossen worden war. Dem folgte die Analyse der Interaktion zwischen beiden Akteuren. Man widersprach der zuvor genannten Sicht der Schwäche der MS. Wie Europarecht umgesetzt wird, ist von einem zum anderen Staat verschieden. Das beweist, dass erhebliche Margen bei der Umsetzung vorhanden sind, die die MS zu ihren Gunsten nutzen. Transnationale Forderungen, wie etwa solche nach Aufenthaltsgenehmigung von Migranten, finden im Nationalstaat statt. In Sachen Immi-grationspolitik sehen eine Reihe von Autoren den EU-Mitgliedsstaat nach wie vor als den entscheidenenden Gate-keeper,1 auch wenn die europa-interne Freizügigkeit eine Politik der ersten Stunde war. Um diesen letzten Punkt geht es mir.
Immigrationspolitik gehört zu den wichtigen Pfeilern nationalstaatlicher Souveränität. Nach dem Ersten Weltkrieg hat Luxemburg seine Immigrationspolitik autonom und ohne supranationale Einflüsse definiert; mit Ausnahme der Freizügigkeit der Arbeiter, die im Rahmen der Belgisch-Luxemburgischen Wirtschaftsunion von 1921 festgehalten wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Pariser Verträge zur Montanunion (1951) und die Römischen Verträge zur EWG (1957) Freizügigkeit der Arbeiter der Mitgliedsstaaten festgelegt und damit nationalstaatliche Kompetenzen auf das europäische Niveau transferiert. Die Umsetzung dieser Prinzipien verlief nicht ganz so geradlinig. Diverse Korrekturen oblagen dem Europäischen Gerichtshof. Mehrere Direktiven mussten in nationales Recht umgesetzt werden. Die Interpretation europäischer Texte war und ist nach wie vor Ausdruck der ambivalenten Haltung der Regierungen, die zwischen Einsicht in die Notwendigkeit und den Vorteilen einer gemeinsamen Vorgehensweise und dem Erhalt der nationalen Souveränität bestehen. Nach wie vor wollen die MS die Immigration kontrollieren, und zwar besonders in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit. Legitimation dafür sieht der Nationalstaat in seiner Beziehung zu seinen Bürgern, in seiner Verpflichtung, diese gegen Externe zu schützen, in dem Bemühen, die Wohlfahrtsangebote – die ursprünglich für die eigenen Bürger geschaffen wurden – zu erhalten. Zudem war die Freizügigkeit von Beginn der EWG an beschränkt auf Berufstätige und die Mitglieder ihrer Kleinfamilien. Die Immigration aktiver junger gesunder, wenn möglich gut ausgebildeter Menschen war schon immer das Ziel entwickelter Staaten. Dagegen scheut sich jeder Staat vor einer zu starken Familienzusammenführung und humanitärer Migration, da diese beiden zumindest erst einmal dem Staat „zur Last“ fallen. Die Mitglieder der Kleinfamilie waren nach dem Zweiten Weltkrieg ein nicht mehr zu umgehender Teil der Migration geworden. Das galt jedoch nicht für andere Familienmitglieder wie Eltern oder Geschwister der hiesigen Migranten. Alle Staaten waren frei, ihre eigene Immigrationspolitik gegenüber Drittstaatlern zu entwerfen – hierzu gab es bis 1999 keine euro-päische Vorgabe.
Luxemburg hat geschafft, was alle anstrebten: eine starke Wirtschaftsmigration und eine geringe humanitäre und Familienmigration. Im Vergleich zum OECD-Durchschnitt des Jahres 2009 von 14,5 Prozent hat Luxemburg einen Anteil an Wirtschaftsmigranten von 54,3 Prozent unter den Zuwanderern. Wie ist das möglich? Hier seien nur zwei Faktoren erwähnt:
a) Luxemburg hat im Gegensatz zu seinen Nachbarstaaten während der Öl- und Stahlkrise seine ökonomische Immigration nicht gestoppt. Dadurch wuchs der Einwandereranteil an der Bevölkerung seit den 50-er Jahren permanent. Jenseits der Grenze wurde die Wirtschaftsmigration in den 70-er Jahren zum Schutz der eigenen Arbeitslosen gestoppt; seitdem wurden nur noch Familienmitglieder der Migranten zugelassen. Entsprechend stieg dort der Anteil der Familien- im Vergleich zur Wirtschaftsmigration; in Luxemburg nicht.
b) Dazu kommt der Europäisierungseffekt: Luxemburg kann wegen seiner hohen Gehälter und einer großzügigen Sozialhilfe (RMG: 1 229 Euro pro Monat für einen Erwachsenen) seine Gate-keeper-Funk-tion anders ausüben als etwa die Slowakei, die sich mit 61 Euro pro Monat für einen Erwachsenen am unteren Ende der Skala befindet. Laut Europarecht (Verordnung 1612/68, Direktiven 1990/364 und 2004/38) sollen nicht aktive Migranten dem Staat ihrer Wahl nicht zur Last fallen: Sie sollen keine So-zialhilfebezieher werden, auch um der Nachhaltigkeit der Sozialversicherungssysteme gerecht zu werden. Luxemburg und Dänemark (1 323 Euro pro Monat pro Erwachsenem) bieten mit Abstand die höchsten Sozialhilfesätze an, und genau dies ist der Parameter für die nationalstaatliche Kontrolle der Familienmigration laut Europarecht.
Solange der ältere Elternteil eines portugiesischen Arbeiters mit einer Minimalpension von 419 Euro Einkünfte in Höhe des luxemburgischen RMG nachweisen musste (Direktive 1990/364), war die Hürde, nach Luxemburg zu ziehen, erheblich. Auch wenn sich die Dinge mit der neuen Verordnung 2004/38 und dem Immigrationsgesetz von 2008 „entspannt“ haben, bleibt nach wie vor eine Rangordnung, die zur Folge hat, dass Staaten mit höherem Sozialhilfeangebot leichter „filtern“ können als jene, die eine geringe Mindestleistung anbieten. Letztere sind mehr oder weniger gezwungen, alle nicht aktiven EU-Bürger „einzulassen“. Das zentrale Motiv der EU-Texte ist das des „nicht zur Last Fallens“, und genannt wird hier lediglich die Sozialhilfe. Jedoch sind auch andere Teile der Sozialversicherung betroffen, und zwar Kranken- und Pflegeversicherungen, besonders wenn es um die Zuwanderung älterer EU-Bürger geht. Eines dieser Beispiele hatte der Ombudsman genannt: Es handelte sich um pflegebedürftige Eltern von hier tätigen EU-Bürgern, die auf Grund ihrer Pflegebedürftigkeit zu ihren Kindern ziehen wollten. Diese Personen brauchen besonders in ihren letzten Lebensjahren hohe Leistungen der genannten Versicherungen und sind via Europarecht auch dazu berechtigt (Verordnungen 1408/71 und 883/2004). Die gleichen europäischen Texte sehen auch Pauschalzahlungen zwischen den Krankenkassen der Länder vor, die jedoch im Falle einer späten Zuwanderung kaum die wirklichen Kosten decken. Dass der Staat hier als Gate-keeper tätig ist, begründet er mit seiner nationalstaatlichen Mission, nämlich die Nachhaltigkeit der Wohlfarhrtsregimes für seine Bürger zu garantieren. Die Verweigerung des Aufenthaltsrechts älterer Portugiesen mit einer niedrigen portugiesischen Rente kann ein Faktor für den oben genannten niedrigen Anteil an Familienzusammenführung und ein „nachhaltiger“ Faktor für die Versicherungssysteme sein.
Die Europäisiserung produziert nicht nur unterschiedliche Effekte auf verschiedene MS, sondern auch auf verschiedene Bereiche in einem bestimmten MS. Die Handlungs-marge, die Nationalstaaten in so zentralen Bereichen wie der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechtes trotz langer Europäisierung noch haben, zeigt deutlich, dass sogar trotz EU-interner „Mobilität“ die Zuwanderung noch in den Händen der nationalen Verwaltungen liegt. Die hohen Leistungen erlauben Luxemburg, seine Gate-keeper-Funktion wahrzunehmen.
Die Kontrollmöglichkeiten der Staaten sind jedoch verschieden: Dänemark und Luxemburg können Immigration nicht Berufstätiger anders kontrollieren als die Slowakei. Die transnationale Forderung des Aufenthaltsrechtes des älteren Elternteils wurde innerhalb des Nationalstaats gestellt und mit internationalem und nicht mit Europarecht beantwortet. Der Ombudsman plädierte mit Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950), der das Recht auf Familienleben bescheinigt. Die Verwaltungspraxis hat sich daraufhin geändert. Europäisierung ist eine sich stetig entwickelnde Interaktion zwischen dem Nationalstaat und den EU-Instanzen. Mit Blick auf Luxemburgs Migration kann man sagen, dass die Europäisierung und andere Faktoren diesem Nationalstaat den höchsten Anteil von Wirtschaftsmigranten brachten.