Alle sollen innovieren, und alle wollen das. Aber ob in einem Unternehmen, in dem die Entscheidung fällt, ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung anzubieten, wohl immer ganz klar ist, worauf man sich damit einlässt?
Womöglich nicht. Eine Bank zum Beispiel, die beschließt, in Zukunft besonders kundenorientiert zu sein und sich dadurch von ihren Konkurrenten zu unterscheiden, würde ihren Betrieb einem Wandlungsdruck aussetzen, der enorm sein kann: „Es würde ja zum Beispiel heißen, ein Kunde der Luxemburger Filiale dieser Bank müsste deren Filiale in Paris genauso bekannt sein und könnte dort genau dieselben Leistungen erwarten wie in Luxemburg“, sagt Erik Proper, Forschungsleiter am Centre de recherche public Henri Tudor.
In anderen Worten: Die Organisa-tion des Betriebs, seine Informationsflüsse und das Zusammenspiel seiner Mitarbeiter müssen auf die Innova-tion ausgerichtet werden. Klappt das nicht richtig, handelt der Betrieb sich „Komplexitätsprobleme“ ein: Die neue Dienstleistung, die so viel versprach, hat intern für Durcheinander gesorgt.
Solchen Problemen vorbauen helfen will das Forschungsteam, das Proper am CRP Henri Tudor leitet. Asine heißt sein Forschungsprogramm, und es klingt ausgeschrieben schrecklich abstrakt: Architecture-based service innovation in networked enterprises. Mit einem Finanzierungsvolumen von 3,4 Millionen Euro durch den nationalen Forschungsfonds FNR gehört Asine jedoch zu den besonders ambi-tionierten und hoch dotierten öffentlichen Forschungsvorhaben derzeit. Start für Asine war im Mai 2010.
Erik Proper selbst ist nicht nur eine Schlüsselfigur, weil er beauftragt wurde, das Team dafür zu bilden, aus dem eine ständige Forschungsgruppe am CRP werden soll. Der niederländische Computerwissenschaftler, Professor an der Radboud Universität in Nijmegen, zählt zu den führenden Analytikern von Unternehmens-Architekturen. Für die fünf Jahre Laufzeit von Asine wurde er mit einem Pearl Grant des FNR ans CRP Henri Tudor verpflichtet: Pearl ist ein Programm des Forschungsfonds, durch das gestandene senior researchers für eine Tätigkeit in Luxemburg interessiert werden sollen. Nach dem Schweizer Bruno Domon, der am CRP-Santé eine Abteilung für Proteomik – die Analyse sämtlicher Proteine im Menschen – aufbaut, ist Proper der zweite Wissenschaftler aus dem Ausland, der einen Pearl Grant erhielt.
Asine soll zwei Bereiche verbinden: einerseits die Analyse von Unternehmens-Architekturen, andererseits die Service-Innovation. „Modelle für die Unternehmens-Architektur dienen dazu, die Situation eines Betriebes zu verstehen“, sagt Proper, „von den organisatorischen Strukturen und ihrem Zusammenwirken über die benutzten Technologien bis hin zu den Geschäftsprozessen.“ Man könne damit aber nicht nur festzustellen, „wo ein Unternehmen steht“, etwa gegenüber einer Strategie mit Aktionsplan, die das Management verabschiedet hat und umsetzen möchte. Sondern ebenfalls, welche Konsequenzen es hätte, falls man an der Architektur etwas ändert.
Und Letzteres ist bei Innovationen stets der Fall. „Ein gut funktionierendes Unternehmen ist in seiner Architektur kohärent“, sagt Proper. Will es innovieren, kann es unter Umständen nötig sein, bestimmte Prozesse auszulagern, damit die Architektur kohärent bleibt. Etwa so, wie IBM das 1980 tat, als der Computerhersteller entschied, in den damals noch kleinen, aber viel versprechenden Markt der Personal Computer einzusteigen und mit den Modellen von Commodore, Atari und vor allem Apple zu konkurrieren: Um so schnell es ging einen PC zu entwickeln, der besonders preiswert war, schuf IBM eine separate Struktur mit voller Entscheidungsfreiheit. Die Entwicklung des ersten IBM PCs dauerte nur ein Jahr – innerhalb des Großunternehmens mit seinen Regeln und Prozeduren wäre das kaum so rasch möglich gewesen.
Es sind „informierte Entscheidungen“ dieser Art, die Asine erleichtern will. „Wie ein Spiegel, den sich ein Unternehmen vorhalten und fragen kann: Wo stehen wir? Wir hatten doch diesen Plan, wie geht es weiter?“ Zielgruppe sind größere Betriebe, die komplex sind, in denen die Flüsse von Informationen und Materialien oft in Netzwerken innerhalb eines Netzwerks verlaufen und die Anpassung an Innovationen stets auch ein komplizierter sozialer Prozess ist, der die Mitarbeiter einschließt. In einer ersten Phase will das Team um Proper sich auf die heimische Finanzindustrie konzentrieren. „Aber nicht nur“, sagt Proper, „weil ihre volkswirtschaftliche Bedeutung in Luxemburg so groß ist. Sondern vor allem, weil diese Branche mit den Herausforderungen von Innovationen an ihre Unternehmensarchitekturen schon lange ringt und viele Erfahrungen mit der Problemlösung hat.“
Dass Proper auf eine schon erfahrene Branche setzt, hat damit zu tun, dass Asine nicht nur als Projekt für Betriebe – aber auch für Organisatio-nen – gedacht ist, sondern auch mit Betrieben entwickelt werden soll. Denn da alle innovieren wollen, und das schon lange, wundert es kaum, dass es Modelle zur Unternehmens-Architektur schon gibt. Eines davon, Archimate, hat Proper vor zehn Jahren in den Niederlanden mit entworfen. Auftraggeber war ein Konsor-tium, dem unter anderem ABM Amro, der Pensionsfonds ABP und die niederländische Steuer- und Zollverwaltung angehörten. Seit 2009 ist Archimate ein offener technischer Standard. Geführt wird er von The Open Group, einem Konsortium aus Unternehmen und Organisationen, das sich für „globale Interoperabilität“ im IT-Bereich einsetzt – und dies unter anderem durch zuverlässige Industriestandards erreichen will.
Die bestehenden Modelle hält Proper aber für „noch nicht vollständig und integriert genug“. Archimate zum Beispiel fehle die Möglichkeit, die logistischen Versorgungsketten, die supply chains, an denen ein Betrieb teil hat, mitzubetrachten. Und ganz allgemein gebe es derzeit noch keine Evidenz, wie treffsicher die Modelle in der Praxis sind.
Nicht zuletzt das ist ein Grund, weshalb das Asine-Team demnächst eine ganze Reihe Interviews mit Managern von Unternehmen führen will: Ein treffsicheres Modell, das einen ak-tuellen und einen zukünftigen Stand einer Unternehmensarchitektur beschreiben will, braucht ausgefeilte Analysetechniken.
Doch schon innerhalb einer Branche kann es von Betrieb zu Betrieb sehr verschiedene Gegebenheiten und Innovationsansätze geben: Das eine Versicherungsunternehmen etwa mag sich entscheiden, Niedrigpreis-Produkte anzubieten, die es per Internet vertreibt, das andere sich auf eine gehobene Kundschaft konzentrieren wollen, die bereit ist, für maßgeschneiderte Leistungen höhere Preise zu zahlen. Begriffe wie „Dienstleistung“ oder „Prozess“ sind in beiden Betrieben die gleichen. Was sich damit später verbindet, ist dagegen sehr verschieden, und all dem durch eine angepasste „Sprache“ in einem Modell Rechnung zu tragen, keine ganz leichte Aufgabe. Was erklärt, weshalb Asine nicht nur ein hoch dotiertes Forschungsvorhaben der nächsten Zeit darstellt – mit einer Laufdauer von fünf Jahren ist es zugleich auch eines der aufwändigsten.