„In Protest, the Power of Place“, überschrieb der Architekturkritiker der New York Times, Michael Kimmelman, am 16. Oktober einen Artikel über die vielen Protestbewegungen, die derzeit im arabischen Raum, aber auch in Nordamerika und Westeuropa zu beobachten sind. Ein Bezugspunkt dieser Analyse war der Tahrir-Platz in Kairo, von dem ein guter Teil der so genannten Arabischen Revolution ausging; ein anderer war Zuccotti-Park in Lower Manhattan, New York City, gegenwärtig Zentrum der Occupy Wall Street-Bewegung, die mittlerweile auch in Europa Nachahmer gefunden hat.
Bei allen Unterschieden, die diese Bewegungen mit Blick auf Anlass, Aktivitäten oder Ziele haben mögen, so ist ihnen offensichtlich eines gemeinsam: Sie finden im städtischen Raum statt. Die großen Plätze in den urbanen Zentren bündeln unübersehbar das demokratische Verlangen nach Artikulation. Insofern spielt städtische Öffentlichkeit eine zentrale Rolle für demokratische Gesellschaften und für die Möglichkeit einer res publica. Dies gilt nicht nur trotz des Internet, sondern gerade aufgrund der engen Verzahnung von virtueller und persönlicher Kommunikation, wie die per Twitter organisierten Demonstrationen der Occupy-Bewegung zeigen.
Dieses Beispiel illustriert nur einen von vielen Zugängen der Forschung zum Thema Stadt, die sich aus einer sozial- und humanwissenschaftlichen Perspektive ergeben. Sie ergänzen die klassischen Ansätze der Stadtforschung aus Architektur und Stadtplanung, Sozialwissenschaften oder Regionalökonomie. Mit ihrer Hilfe ergibt sich ein vollständigeres Bild von Stadt und Gesellschaft als das traditionell vermittelte: Denn es geht bei Städten eben nicht nur um territorial definierte, abgegrenzte Einheiten, um deren bauliche Gestaltung, um die Entwicklung von Bevölkerung, Arbeitsplätzen oder Freizeitstätten, um soziales Leben und so weiter. Städte sind auch Standort urbaner Lebensweisen, die heute nicht mehr räumlich determiniert sind. Sie sind vielmehr eingebettet in einen Kontext regionaler und großräumiger Verflechtungen, etwa in Pendlerbeziehungen, globale Produktionsnetze oder einen Städte-Tourismus. Klassische lokale Bindungen wurden längst verflüssigt. Sie sind nicht mehr Schicksal, sondern Gegenstand von Entscheidungen. Und schließlich ist Stadt auch ein Feld sozialer Konstruktionen. Sie ist das Resultat spezifischer subjektiver Sichtweisen, Auffassungen und Interpretationen der uns umgebenden Realität. Diskurs, also vorwiegend sprachlich vermittelte Kommunikation, stellt eine eigenständige Schicht in der Wahrnehmung von Stadt beziehungsweise Raum dar.
Einen derart differenzierten Zugang zu ihrem Gegenstand verfolgt auch die Stadtforschung an der Universität Luxemburg. Dabei geht es um konzeptionell-analytische Fragen, wie die Entwicklung großer polyzentrischer Stadtregionen (zum Beispiel Antwerpen, Hamburg, London); um die Perspektiven ihrer Ränder und ihre spezifischen Lebenszyklen (Alterung und Erneuerung suburbaner Räume der Nachkriegszeit); um Städte als Knotenpunkte im Netz globaler Beziehungen, die trotz oder wegen des Internet zunehmend darauf angewiesen sind, durchlässig zu sein für die globalen flows von Gütern, Informationen und Personen.
Mit der Einbettung der Stadtforschung in die Arbeitsgruppe für Ge-ografie und Raumplanung und in die Forschungseinheit Ipse der Universität ergibt sich ein breites Feld für transdisziplinäre Forschung, das innovative Zugänge und Fragestellungen ermöglicht. So spielen konstruktivistische Forschungsansätze eine gewichtige Rolle, etwa bei der Analyse planerischer Leitbilder oder der Wiederbelebung von Innenstädten, von einigen Beobachtern bereits als „Renaissance“ der Stadt an sich interpretiert. Diese These will aber kritisch hinterfragt sein. Gleiches gilt für das Label „Metropolregionen“, das zum Beispiel Stadtregionen in Deutschland verliehen wurde -- offenbar nicht allein oder primär aufgrund besonderer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, sondern auch infolge politischer Bedeutungszuschreibung.
Im Zentrum einer humanwissenschaftlichen Perspektive stehen die Arbeiten des Ipse-Forschungsprojekts Ident, das an der Uni seit 2011 nun im zweiten Zyklus bearbeitet wird. Ident 2 geht den Raum- und Identitätskonstruktionen nach, die für das Alltagshandeln der Menschen in Grenzräumen relevant sind. Forschungsfragen sind zum Beispiel darauf gerichtet, welche räumlichen Bezüge und Identitäten sich über kollektives und subjektives Handeln in Grenzräumen artikulieren (etwa zum Thema Heimat), oder welche räumlichen Bezüge und Identitäten in hoch- und alltagskulturellen Medien repräsentiert werden. Die Ident-Forschungen wurden und werden in Luxemburg und angrenzenden Regionen durchgeführt – dies ist nicht nur Ausdruck des speziellen Commitments der Universität für die Region, sondern folgt auch deren Besonderheiten im internationalen Vergleich.
Denn Stadt- und Raumforschung finden hier ein sehr ungewöhnliches Setting aus Entwicklungsdynamiken, politischer Praxis und Deutungsmustern vor, das die Forschung geradezu herausfordert. Land und Hauptstadt sind nicht nur schnell gewachsen, sondern besitzen eine gemessen an ihrer Größe (Bevölkerung, Gebietsfläche) überproportionale Bedeutung und Ausstrahlung. Dies äußert sich zum Beispiel im überregionalen Einzugsbereich von Stadt und Land, in der schieren Menge an Pendelverkehren, die speziell der Hauptstadt eine sehr eigene Rhythmik verleihen, in dem sehr eigenartigen beziehungsweise eigenartig regulierten Immobilienmarkt. Hinzu kommt die enge Verflechtung des Landes mit internationalen Entwicklungen. Mi-gration und Internationalisierung der Stadtbevölkerung sind für viele Gemeinden prägend, nicht nur für Luxemburg-Stadt, Esch/Alzette oder Düdelingen. Der damit einhergehende Kontrast aus Tradition und Moderne ist in dieser Größenordnung absolut ungewöhnlich.
In dieses Bild passt auch die gemessen an anderen Städten relativ junge Tradition von Stadt- und Raumplanung, mit der versucht wird, auf diese Probleme zu reagieren. Zeitgemäße Leitvorstellungen hierzu wurden durch die Landesplanung für das Großherzogtum insgesamt ausformuliert. Für die Ebene der Gemeinden gibt es noch keine übergreifende Richtschnur, die diesen Standard erreichen würde. In der Praxis erschöpft sich kommunale Planung stattdessen viel zu oft im Griff zum großen Projekt, in der Maximierung von Nutzflächen, die die hiesigen Maßstäbe sprengen und städtebaulich nur schwer integrierbar sind -- der Kirchberg lässt grüßen. Staat und Gemeinden wirken hier nicht selten als Treiber von monströsen Städtebauvisionen, deren überproportionale Dichtewerte auch noch als nachhaltig gelten – ohne dass dabei konkrete Einstellungen und Handlungsmuster der Nutzerinnen und Nutzer schon berücksichtigt wären.
Rasante Eigendynamiken, ein hoher Internationalisierungsgrad sowie ein relativ junges Trajekt in der Raumplanung bilden schließlich eine spannende Kulisse für die Zusammenarbeit mit der Praxis. Dazu haben Universität, Ministerien und Gemeinden unter anderem die gemeinsam finanzierte und durch die Universität betriebene Informationsstelle für Europäische Stadtpolitik Cipu gegründet. Cipu dient als Schnittstelle zwischen den verschiedenen Akteuren, nicht nur zum Transfer von Information, sondern auch zur Zusammenarbeit, etwa bei EU-Förderprogrammen, thematischen Projekten (Klimawandel, Nachhaltigkeit) oder bezogen auf die Bedeutung der künftigen Cité des sciences in Belval.
Als Partner der Universität versteht sich auch die Stadt Luxemburg, die den Lehrstuhl für Stadtforschung über einen Zeitraum von fünf Jahren finanziert. Auf diese Weise soll ein Beitrag zum Wissensaufbau in der Region in punkto Stadtentwicklung, -forschung und -planung geleistet werden. Unter günstigen Bedingungen lassen sich damit lokale Alternativen zum Wissensimport aus anderen Ländern fördern. Die stadtpolitischen Probleme im engeren Sinne müssen ohnehin vor Ort gelöst werden, und vielleicht liegt exakt auf den Feldern von Transparenz, Kollaboration und Partizipa-tion auch aktuell der größte Handlungsbedarf für die Stadtentwicklungspolitiken im Großherzogtum.