Gleich zwei Gedichtbände mit insgesamt vier (oder sogar fünf) Zyklen hat Jean-Paul Jacobs im vergangenen Jahr veröffentlicht; sie gehören zusammen, auch wenn sie in ihrer Aufmachung unterschiedlicher kaum hätten ausfallen können. In ruhmeshalle, entrechats und am kamin wie auch in dem wenige Monate später nachgereichten Band in der sänfte des apollofalters bleibt der in Berlin lebende Dichter einem Verständnis von Dichtung verpflichtet, das sich weder dem Zeitgeist unterordnet, noch traditionellere Formen der Lyrik bedient. Künstler, Musen, Singvögel und Feldherrn bevölkern nebst allerlei exotischen Existenzen (Ameisenköniginnen, Außerirdischen oder einem berühmten Pariser Perückenmacher – um nur diese Beispiele zu nennen) eine erdichtete, traumhafte, verzauberte Welt. Der Dichter bleibt bei seiner ganz eigenen Bildlichkeit, die ihrem Wortsinn nach dem Imaginären verhaftet ist und in der historische Figuren wie Schiller, Johanna Schopenhauer oder Mazarin ihre Rolle in erdachten Szenarien genauso übernehmen wie eine erfundene Dombaumeisterin oder ein besonders manierlicher Krokus.
Nichts liegt Jacobs folglich ferner, als dem Leser mit der Zurschaustellung der Gefühlswelt eines besonders akut leidenden oder besonders genau beobachtenden Ichs auf die Pelle zu rücken. Seine Gedichte zwingen dem Leser keine Weltsicht auf und behindern sein Verständnis nicht durch verschobene Satzkonstruktionen oder Neologismen. Sie sind kurz, wie aus Höflichkeit, wie um dem Leser nicht mit Weitschweifigkeit zur Last zu fallen. Diese – um es mit einem Wort von Daniel Kehlmann zu sagen – „sehr ernsten Scherze“ wollen erheitern und unterhalten, ohne den Leser zu verdummen, was sicher keine geringe Kunst ist. Wer Jacobs’ Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre mitverfolgt hat, erkennt ein konsequentes Festhalten an einem eigenwilligen literarischen Programm.
Dass es der Dichter vor allem mit dem bei Ultimomondo erschienen Buch trotzdem geschafft hat, seine Leserschaft zu überraschen, liegt nicht zuletzt an einem einmaligen Entgegenkommen des Verlegers, das ruhmeshallle – entrechats – am kamin zu dem Buch des Autors macht, dessen Aufmachung den Gestus der Gedichte am besten widerspiegelt. Zwischen dem matt goldenen Inneneinband sind hier nicht nur Gedichte abgedruckt, sondern auch Collagen von Jacobs. Diese Arbeiten sind nicht einfach schmückendes Beiwerk; sie führen seine Poesie mit anderen Mitteln fort und lassen sich gewissermaßen als ein weiterer Zyklus des Buches verstehen.
In diesen Collagen hält das Preziose dem Preziösen und das Wundersame dem Albernen die Waage. Der Dichter verfremdet alte Gravuren, indem er sie mit den Attributen galanter Szenerien ausstattet, die zuverlässig nicht dort angebracht sind, wo man sie in der Welt vor der Tür erwarten würde. Aus Werbeprospekten ausgeschnittene Schmuckstücke prangen an Hüten, ein kunstvoll lackierter Fingernagel ragt zeigend aus dem Gedicht eines Klavierspielers, aus einer Blüte wird das Tutu eines eleganten Flötenspielers, womöglich Friedrichs des Großen, dem Jacobs in einem Anhang des Buches allerhand erstaunliche Maximen und Aussprüche in den Mund legt.
Ein anderer Aspekt, der das Buch trotz aller Kontinuität von seinen Vorgängern abhebt, ist eine merkliche Bemühung des Autors um zusammenhängende Kontexte: Die einzelnen Zyklen bestehen nicht in zufälligen Ansammlungen zeitgleich entstandener Texte, sondern entwickelt Bilderwelten, in denen die einzelnen Gedichte in einen Dialog zueinander treten. Bildebenen werden durchgehalten, Motive wieder aufgegriffen und manche Gedichte klingen wie Echos auf einen Vorgänger. Die Gebirgswelt, mythische Figuren, unterschiedliche Vögel und die Protagonisten der Weimarer Klassik werden hier auf wundersame Weise die Teile eines Imaginariums. Ein Beispiel: In ruhmeshalle kündigt das erste Gedicht auf Italienisch eine Dichtung auf Englisch an, die ihm mit dem zweiten Gedicht folgt. Auf Adonis’ „canard sauvage“ („designed by christian dior“) in diesem zweiten Text folgt im dritten ein „miraculous chicken à la provençale“. Verschmäht wird das Huhn von einer Dame, die sich vom Schweizer Maler Anton Graff hat porträtieren lassen: Weiter geht es mit dem Gedicht „im hohen gebirge“, in dem ein unglückseliger Steinbock das Zeitliche segnet, als ihn ein Blitz aus der Hand des Göttervaters trifft. Unterbrochen wird diese lose Verknüpfung erwartungsgemäß durch Reflexionen über Sinn und Unsinn des Schreibens von Gedichten, über die Tragweite der Poesie und über ihre Grenzen. Im Vergleich zu Jacobs‘ anderen Veröffentlichungen der vergangenen zehn Jahre wirkt die ausdrückliche Thematisierung seiner ambivalenten Poetik aber zurückgenommen zugunsten neuer poetischer Formate, der Tonfall des Buches dadurch selbstbewusster und spielerischer zugleich.
In dieser Hinsicht fällt die dichterische Selbstverfremdung in entrechats auf: Jacobs beschwört in einer Suite von zwölf Gedichten einen denkwürdigen Abend mit seiner Frau und seinen Freunden im Wiener Gasthaus Sittl, an dem es nicht weniger verwunderlich zugeht als im vorher herbeifabulierten Weimar, wo sich Goethe hinter einem Vorhang versteckt, um Schiller wegen eines unflätigen Ausrufs zu schelten.
Das ist, was diese Gedichte ausmacht: Die Mittel der Darstellung verweisen den Leser grundsätzlich auf Nebensächliches, sie bemühen ein imaginäres Hörensagen, präsentieren erfundene Anekdoten und geben oberflächlichen Formen des Sagens wie dem Bonmot oder dem gepflegten Kalauer gerne den Vorrang. Bei aller Leichtigkeit geht es dabei nicht um als Poesie getarntes leeres Geschwätz. Wenn er den Dichter auf „aufgeklärtere zeiten“ hoffen lässt, weil diesen sein „schamloses gedicht“ selbst entsetzt, scheint in der Ironie ein unaufdringlich formulierter Idealismus durch, der sich der Kleingeistigkeit und allem Dogmatischen verweigert. Nicht einmal vor sich selbst macht der Dichter dabei Halt. in der sänfte des apollofalters, die im bescheidenen Taschenformat bei Binsfeld erschienene Fortsetzung, setzt mit einem denkbar inkonsequenten Abecedarium ein, in dem jedes Gedicht die Häufung eines bestimmten Lautes forciert. Wie um nicht durch Vollständigkeit pedantisch und abgeschmackt zu wirken, werden die meisten Laute ausgelassen. Auch die konventionelle Reihenfolge wird durcheinandergerüttelt, so folgt der Buchstabe „b“ („o bleicher buffo“) hier auf „c“ („comtesse cosel war eine crazy cousine“) und „z“ steht mitnichten am Ende. Bei aller Vorliebe des Dichters für das Rituelle und die schöne Form erhält das freiheitliche Element die Überhand, eine fröhliche Anarchie im Umgang mit äußeren wie selbst auferlegten Regeln.