Eigentlich hat die designierte EU-Kommissionspräsidentin alles richtig gemacht: Sie arbeitete sich geräuschlos in ihre neue Aufgabe und Verantwortung ein, präsentierte Anfang September ein ausgebufftes Personalpaket für die künftige Kommission und doch steckt Ursula von der Leyen nun im Schlamassel. Seit Montag befragen die zuständigen Parlamentsausschüsse die Nominierten, und bei zweien ging dies im Vorfeld schon gründlich schief: Die Rumänin Rovana Plumb und der Ungar Laslo Tracsanyi seien für den Posten in der EU-Kommission ungeeignet, denn es gebe finanzielle Interessenskonflikte, die sich nicht ausräumen ließen. Parlamentspräsident David Sassoli bat Anfang der Woche noch um Klarstellung, doch von der Leyen muss sich wohl um Ersatz für die beiden Politiker bemühen.
Und es könnte schlimmer kommen: Die Parlamentarier in Straßburg meldeten Vorbehalte gegen fünf bis sieben weitere Anwärter an. So etwa beim Polen Janusz Wojciechowski. Bei ihm fand die EU-Anti-Betrugsbehörde Olaf Unregelmäßigkeiten in Reisekostenabrechnungen, empfahl aber lediglich eine Rückzahlung der inkriminierten Beträge und keine strafrechtlichen Schritte.
Das Straßburger Parlament nimmt die Prüfung der Kommissionsanwärter sehr ernst und stellt sich dieser Aufgabe mit grimmiger Entschlossenheit und generalstabsmäßiger Planung. Drei Stunden lang nehmen die Abgeordneten jeden Kandidaten in die Mangel. Bis zum 8. Oktober. Dann stellen sie jedem ein Zeugnis aus. Auch dem fürs Ressort Arbeit desginierten Luxemburger Anwärter Nicolas Schmit. Der sagte nach kritischen Rückfragen zur Scheinselbständigkeit und zur Arbeitlosen-Rückversicherung, die Befragung sei „hart“ gewesen. „Die Anhörungen sind ein wichtiger Moment europäischer Demokratie“, erklärt Sven Giegold, Mitglied der Grünen-Fraktion im EU-Parlament. Die Schmach aus dem Frühsommer sitzt noch tief, als bei der Nominierung von der Leyens das Parlament übergangen wurde. Das haben viele Abgeordnete nicht vergessen. Sozialdemokraten und Grüne sind darüber hinaus misstrauisch, ob das „Es allen recht machende“-Programm der Kommissionspräsidentin Bestand haben wird. Bei den Anhörungen wollen sie ihren Hebel nutzen und die Kandidaten auf Positionen festnageln und damit die kommende Politik Europas ein wenig mitbestimmen wollen. Nur wenn am Ende der Anhörungen das Plenum die gesamte Kommission absegnet, kann es pünktlich zum 1. November einen Wechsel in Brüssel geben.
Dabei sind die Personalien Tracsanyi und Wojciechowski für Ursula von der Leyen von besonderer Brisanz. Denn es waren die sogenannten Visegrad-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn, die den Weg der Deutschen an die Kommissionsspitze ebneten und sie bei ihrer Kandidatur maßgeblich unterstützen. Nach der Wahl von der Leyens im Juli brüsteten sich die rechtsnationalen Partein PiS aus Polen und Fidesz aus Ungarn damit, ihr zur Mehrheit verholfen zu haben. Nun werden diese Staaten von der Kommissionspräsidentin ein gerütteltes Maß an Entgegenkommen einfordern. So akzeptierte denn auch von der Leyen die umstrittenen Kandidaten aus den östlichen EU-Mitgliedsländern- und überlässt es nun dem Parlament, diese gegebenenfalls zu stoppen und den Konflikt mit den jeweiligen nationalen Regierungen zu suchen. Von der Leyen wird sich dabei bedeckt halten, denn sie braucht die Visegrad-Staaten um Politik für Europa zu machen. Sei es in Sachen Klima oder hinsichtlich der Migration. Doch sie wird auf europäischer Ebene auch daran gemessen werden, ob sie es schafft, sich gegen ihr Förderer durchzusetzen, vor allen bei den Themen Asyl und Rechtsstaatlichkeit. Der ungarische Außenminister Peter Szijjártó machte bereits deutlich, dass er von den migrationspolitischen Plänen von der Leyens nicht viel hält.
So schaltet die künftige Präsidentin in den Modus, den sie am besten beherrscht: es allen recht zu machen. Wie weit sie dabei zu gehen vermag, das zeigte bereits der Streit um den Titel des designierten Vizepräsidenten zum „Schutz der europäischen Lebensweisen“. Eigentlich eine Petitesse, die dann zum Politikum wurde, als feststand, dass darunter auch die Migrations- und Asylpolitik fallen sollen. Der Titel soll all diejenigen umgarnen, die dafür eintreten, dass Europa eher weniger denn mehr Flüchtlinge aufnehmen soll n- und treibt Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und Sozialisten im Europaparlament gleichermaßen auf die Barrikaden. Die Kritiker fordern, dass entweder der Titel oder aber die Zuständigkeit geändert werden soll. Sonst werde man die neue Kommission nicht unterstützen können, schrieb etwa die sozialdemokratische Fraktionschefin Iratxe García Pérez an Ursula von der Leyen. Deren eigene Parteienfamilie sieht jedoch kein Problem im Titelstreit: „Ich gehe davon aus, dass es so bleibt“, erklärte Daniel Caspary, Chef der CDU/CSU-Abgeordneten im Europaparlament.
Die kommenden Wochen werden zu einer Machtprobe werden – für die designierte EU-Kommission mit dem Straßburger Parlament und den nationalen Regierungen in den Hauptstädten der EU. Für von der Leyen ist dies durchaus heikel. Während ihrer Amtszeit in den nächsten fünf Jahren wird sie immer wieder Mehrheiten zusammenklauben müssen, sonst kann sie nichts durchsetzen. In einem Parlament mit starken, extremistischen, EU-kritischen Rändern muss sie um die Mitte buhlen, um Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne, ohne dabei Linke und Konservative ganz zu verprellen. Im Kreis der EU-Staaten muss sie zudem um Konfliktlinie zwischen Nord und Süd, Ost und West herumbalancieren müssen. Und dabei den Bürgern der EU beweisen, dass das Konstrukt Europäische Union zusammenhält und vorankommt.