Auf den Bildern des Fotografen Raoul Ries sind im Vordergrund Alltagsszenerien zu sehen, im Hintergrund thront monumental der Fuji. Der Luxemburger zeigt derzeit seine Serie Thirty-six views of Mount Fuji im Espace 1 der Galerie Clairefontaine. Inspiration gaben Ries die Bilder von Hokusai, der in den 1830ern eine gleichnamige Serie an Fuji-Farbholzschnitten erstellte. Typisch für Hokusais Bilder sind der heilige Berg im Hintergrund, eine jahreszeitlich geprägte Landschaft im Mittelgrund sowie zivilisatorische Elemente, die sich in den Vordergrund schieben. Ries übersetzt Hokusais Stil ins Fotografische, indem er denselben Aufbau und auch dasselbe Bildformat wählt.
Während zweier Reisen tourte der Fotograf mit dem Fahrrad um den Fuji und fotografierte dabei – Hokusais Motive im Hinterkopf – den Vulkan. Es sind die Dreiteilung im Aufbau, grafische Elemente, Dreiecks- und Kreisformen, die Drucke und Fotografien einen. Die feinen Zickzacklinien, die sich in Ries’ Fotografie im Wellblech eines Industriegebäudes und im Fußpfad des schneebedeckten Gipfels finden, sind eine Referenz auf die feinen Linien Hokusais. Wie Ries erklärt, war ihm auch der symbolische Gehalt der Bilder wichtig, etwa der Kranich, Symbol für das Reisen, der in der Serie sowohl in natura als auch als Logo eines Busunternehmens in Erscheinung tritt.
Es gehe in seiner Arbeit um den Lauf der Zeit, sagt Ries, um den Lauf des Lebens ebenso wie den Verlauf der Jahreszeiten, der sich in den Fotos wiederfindet. So ist zweimal dieselbe Ansicht eines Flussufers zu sehen, einmal schneebedeckt, einmal von Spaziergängern bevölkert. Der zirkuläre Aspekt zeigt sich in der Konzeption der Ausstellung als Rundgang und kommt symbolisch im Bild einer Rennstreckenkurve zur Geltung. Der Lauf der Zeit verlangsamt sich in Ries’ Bildern in der Tiefe: Im Vordergrund der Alltagsablauf, dahinter die Jahreszeit und hinter all dem zeitlos erhaben der Fuji.
Es sind gerade die aus dem Leben gegriffenen Motive im Vordergrund, die Ries’ augenscheinlich bukolischer Arbeit eine stark sozialdokumentarische Komponente verleihen. Die Menschen wirken oft einsam und deplatziert, ein Eindruck, den Ries auch bei seinem Aufenthalt gewann. So steht in einer Fotografie ein weißgrau gekleideter Herr verloren vor einem 7-Eleven-Supermarkt, in dem es, so Ries, regalweise Convenience-Food in Single-Portionen zu kaufen gebe. Insofern gelingt Ries mit Thirty-six views of Mount Fuji eine zeitgenössische Interpretation der Motivik Hokusais, mit dokumentarischem Potenzial und von poetischer Ästhetik.
Eine ähnliche Verschränkung dokumentarischer und landschaftsfotografischer Arbeit präsentiert der deutsche Künstler Sven Johne mit seinem Griechenland-Zyklus aus dem Jahr 2013 in der Villa Vauban. Dort reihen sich schwarzblau die Ansichten von Sternenhimmeln über Delphi, Olympia und anderen Orten der griechischen Mythologie aneinander.
Wie Logbucheinträge stehen unter den Bildern kurze, mit Zeit- und Ortsangaben versehene Texte. Die Erwartung des Betrachters, es mit einer reinen Fotoausstellung zu tun zu haben, wird in dieser Alternation von Bild und Text gebrochen. Statt einfacher Bildbeschreibungen liest man von den Eindrücken des reisenden Künstlers, in denen auch die Einheimischen zu Wort kommen und etwa verlautbaren: „Friends, in this country only the stupid pay taxes.“ Obwohl sie als Zitate ausgewiesen werden, handelt es sich nicht um authentische Aufzeichnungen.
Johne vermischt Fakten und Fiktion in dieser konzeptionellen Verbindung von Dokumentation und Kunst und kreiert so neue, alternative Mythen aus dem Zeitalter der Eurokrise. Dem Betrachter bleibt verschlossen, inwieweit die dokumentierten Erlebnisse der Realität entsprechen.
Johne versucht mit seinem Griechenland-Zyklus gesellschaftliche Phänomene und subjektive Eindrücke zu verknüpfen, indem er die einzelnen Geschichten visuell unter demselben Firmament vereint. Diese Überblendung von Kunst und Dokumentarismus mag konzeptuell interessant sein, aus fotografischer Sicht bietet sie jedoch wenig Abwechslung, da die genannten Orte auf den Himmelfotografien an Ecken und Rändern allenfalls zu erahnen sind.
Vergleicht man die beiden zyklisch angelegten Arbeiten, überzeugt vor allem Ries’ Projekt im Hinblick auf die Zugänglichkeit und das große inhaltliche Spektrum. Thirty-six views of Mount Fuji erscheint, gefördert durch die Bourse des CNA in Düdelingen, im großen deutschen Kunstbuchverlag Hatje Cantz – eine verdiente Würdigung.