Mit Abreise. Notizen zur Liebe von Michel Clees veröffentlicht Editions Guy Binsfeld ein weiteres Werk eines ehemaligen Ultimomondo-Autors. Der etwas über achtzig Seiten schmale Band besteht aus einer etwas längeren Erzählung (knapp dreißig Seiten) sowie einer Reihe von Songtexten. Das Buch gibt gleich mehrere Rätsel auf.
Der Erzähltext Abreise handelt von einer Zugreise des Protagonisten Joseph Welsch, bei der es zuerst zu einer Art Annäherung an eine junge Mitreisende und anschließend zu einer Art Konflikt mit einem zugestiegenen Fahrgast kommt. Rätsel Nummer eins: Was passiert da eigentlich wirklich und was passiert nur im Kopf des Joseph Welsch?
Soviel lässt sich nachvollziehen: Clees zeichnet die Figur als Sonderling par excellence: Der Mann ist alleinstehend, arbeitet bei der Steuerverwaltung und verbringt seine freie Zeit damit, aus dem Fenster zu starren oder sich Videos bei Youtube anzuschauen (Hinrichtungen und drollige Tiere). Die Zugreise ist für ihn ein Aufbruch zu neuen Ufern; er hat nach dem Tod seines Vaters mit seinem bisherigen Dasein offenbar gebrochen, jedenfalls die Festplatte seines Computers gelöscht. Mit der Anwesenheit der jungen Frau im Zugabteil hatte er nicht gerechnet (aufgrund einer auch äußerst rätselhaften Fähigkeit: „Er hatte sich wohl informiert und wusste bereits lange im Voraus, dass jener Tag ein warmer Tag sein würde“). Aus der anfänglichen Irritation wird Sympathie, die sich aber nicht weiter entfalten kann, da ein weiterer Fahrgast zusteigt und die empfindliche Zweisamkeit von Welsch und der jungen Frau durch sein Eintreten zerstört.
Der Autor erzählt diese Geschichte in der dritten Person, lässt den Leser dabei aber an den oft sprunghaften oder abschweifenden Gedankengängen der Figuren teilhaben, ihren Eindrücken, Vorstellungen und Tagträumen – vielleicht eine Anspielung auf die frühen Experimente mit dem „stream of consciousness“, mit denen Autoren wie Arthur Schnitzler um die Jahrhundertwende die Erkenntnisse der Psychoanalyse literarisch zu verwerten suchten (in Frau Bertha Garlan bezeichnenderweise in der Beschreibung einer Zugfahrt). Aus den Umschweifen und verworfenen Möglichkeiten, etwa in der Aneinanderreihung von Äußerungen, die von den Figuren nicht getätigt werden, lässt sich letztlich nicht viel mehr entnehmen, als dass äußerlich nicht viel passiert, innerlich aber alles in einer Enttäuschung für Joseph Welsch endet, auch wenn man nicht genau weiß, was er sich erhofft hatte.
Rätsel Nummer zwei: Warum lautet der Untertitel des Bandes „Notizen zur Liebe“, auch wenn sich dieser Titel bestenfalls auf die im zweiten Teil des Buches abgedruckten Songtexte bezieht? Weil das Ende der Liebe metaphorisch als „Abreise“ gedeutet werden kann? Die Behauptung eines Zusammenhangs zwischen den beiden Teilen ergibt sich jedenfalls nicht zwingend. Dass die Songtexte im Layout zu Kapiteln gestreckt, also durch ein ansonsten nicht bedrucktes Blatt mit nur der Nummerierung voneinander getrennt sind, erweckt eher den Eindruck, als hätten Seiten gefüllt werden müssen – notfalls mit einer dürftigen Metapher.
A propos dürftige Metaphern, Rätsel Nummer drei: Das Motiv der Abreise gehört, wie der Autor im Vorwort selbst anmerkt, zu den gängigeren Sprachbildern; ein origineller Stil als Ausgleich bietet sich demnach an. So zeichnet sich Clees’ Sprache durch eine betonte Künstlichkeit aus, durch oft komplexe („verschachtelte“ und überlange) Satzstrukturen und gesuchte Formulierungen. Das alte Problem dabei, einfache Sachverhalte durch komplizierte Sprachgebilde wiederzugeben, liegt in der Verständlichkeit des Gesagten. So anrührend manche Metaphern in ihrer Wunderlichkeit auch wirken mögen, so wenig lassen sie sich oft nachvollziehen. Ein Beispiel: „(...) da wusste ich nichts davon, dass die Liebe eine Glückliche (sic) sein könnte, dass sie einem im Kopf umher spuken kann wie alte Trauben, die man zu lange keltert.“ – Die Liebe als eine Art Trunkenheit darzustellen – geschenkt. Was aber soll man sich unter spukenden Trauben vorstellen? Oder (aus dem Vorwort): „Nun einmal innehalten und sich an den Schweißperlen des Anderen freuen, wie man heuer über den Apfelkuchen sich gebeugt hat und die Hände zu Würfeln geformt hat, um sich in den Tag hinein zu werfen und erhobenen Hauptes über die Kuchenform heraus zu wachsen.“ Es lässt sich erahnen: Liebe und Geborgenheit, eine häusliche Gemeinschaft vielleicht, die angesichts verschiedener Erfordernisse stärkt. Aber: zu Würfeln geformte Hände? Über Kuchenformen hinauswachsen? Da bedarf es womöglich eines feineren dichterischen Gespürs als es den meisten Lesern gegeben sein wird.
Die allgemeine Undurchsichtigkeit der Texte mag als Teilerklärung für Rätsel Nummer vier gelten: Wie haben ein Autor, ein Lektor und zwei Korrektoren so viele Fehler und Wortwiederholungen stehen lassen können? Verschreiber (zum Beispiel „Merrschweinchen“ und „Fünfjahriger“ auf einer Seite), Kommasetzung (zwischen Haupt- und Nebensatz), Zeitenfolge (was hat der Autor gegen das Plusquamperfekt?) – angesichts so weniger Seiten wirkt die Häufung recht unnötig.
Laut Heidegger liegt zwar das Wesen des Kunstwerks im Geheimnis, als allgemeiner Freibrief für den Künstler war das allerdings nicht gedacht.