Edward Albee ist 21, als er die Beziehung zu seinen Eltern abbricht. Die Strenge und die eisige Kommunikation mit den Erzkonservativen erklärt er sich damit, dass er Adoptivsohn ist. Noch dazu vertieft die spätere Erkenntnis über seine Homosexualität die Kluft zwischen ihm und seinen Eltern. Gelegenheitsjobs in New York und die gescheiterten Versuche als Dichter und Romancier tragen ihres dazu bei, dass Albee eine reichhaltige Biografie des Scheiterns aufzuweisen hat. Und doch scheint ihm der Vater auch ertragreiche Gene vererbt zu haben. Der wohlhabende Besitzer einer Theaterkette hat den Sohn wohl etwas von der Theaterluft schnuppern lassen. Sein Beziehungsdrama Who’s afraid of Virginia Woolf?? aus dem Jahre 1962 macht ihn nämlich über Nacht zu einem gefeierten Dramatiker in den USA.
Der deutsche Regisseur Stefan Maurer hat Albees Drama in einer Koproduktion von Théâtre national du Luxembourg und Kasemattentheater in deutscher Sprache erfolgreich inszeniert, sodass neben den acht geplanten Vorstellungen eine Zusatzvorstellung angeboten wurde. Die Gründe für den Erfolg des Dramas liefert auch Albees Vorlage, die die zeitlose Thematik der Beziehungskrise mit den 1962 noch sehr frischen Stilmitteln des absurden Theaters vermischt, ohne dabei dem sperrigen Gesamtkonzept der Beckett‘schen Dramaturgie zu folgen.
Nach einer spießigen Rezeption bei Marthas Vater, dem Rektor der Universität, finden sich der Geschichtsprofessor George und seine Gattin Martha zu Hause ein und warten ihrerseits auf Gäste: Nick (Marc Limpach), ein wissenschaftlicher Assistent im Fach Biologie, und seine Ehefrau. In sich allmählich hochschaukelnden Gesprächen wird der anfängliche Zynismus zwischen George und Martha als gegenseitige Verachtung entlarvt. In sprachlich geschliffenen Schlagabtauschen hält George seinen rhetorischen Konkurrenten einen Spiegel vor, in dem jedem Protagonisten die Dekonstruktion der eigenen bürgerlichen Fassade vorgetragen wird. Mit Alkohol und Sticheleien hat diese Maske sich bis dato noch zusammenkleistern lassen. Das Spiel zwischen Schein und Sein des akademischen Establishments gipfelt letztlich im Tod des eigenen Sohnes, eines Fantasiegespinsts von George und Martha, das existiert hat, um wenigstens etwas „unverletzt durch die Kloake unserer Ehe [zu] bringen“.
Die Hassliebe schießt wie Blitze aus Germain Wagners blinzelnden Augen heraus. Ines Krug pendelt ihre Figur ein zwischen den Extremen eines lasziven Vamps und der selbstdestruktiven Verachtung ihrem Gatten gegenüber, der den Chefsessel der Universität nicht, wie erhofft, übernommen hat. Auch Fabienne Hollwege entwickelt sich im Laufe der Dramaturgie zunehmend und verkörpert das naive Dummchen, das mit „Putzi“ angesprochen wird und sich nur für wenige Momente hinter dem Schutzpanzer der Bürgerlichkeit hervorwagt, um dann für Sekunden zur wahnerfüllten Furie zu mutieren.
Der Publikumserfolg gründet aber auch auf Maurers Inszenierung, die die bürgerliche Fassade als Summe von Illusion und Opportunismus dekonstruiert und von ihren Leitmotiven, dem Spiel, der Trinksucht und dem Ungleichgewicht, lebt. Diese sind vielfach in Kulisse und Choreografie verwoben. Unzählige leere Alkoholflaschen säumen die Wände, Eiswürfel werden gegen die Mauer geschleudert. Stets übernimmt eine Figur die Funktion des Moderators, der die Spielenden zu ihrer jeweiligen Rolle zwingt. Im Wortspiel wird der Partner bloßgestellt, ja entblößt sich die Sprache selbst – nicht etwa als Mittel der Kommunikation, sondern als solches der Entwürdigung.
Simplistisch und überaus effizient beginnt eine eingangs befestigte Schwebebühne in bedrückendem Grau über der Hauptbühne zu schaukeln und symbolisiert den sich zusehends fortschreitenden Prozess der Destabilisierung. Angesichts der schwankenden Imposanz wirken auch die vier Stühle, auf denen einmal jeder seinen Platz finden sollte, lächerlich. Choreografie und Kulisse fügen sich in diesem Kammerspiel somit ein zum Soziogramm einer sich selbst enttarnenden Schein-Elite. Und jeder hat somit Angst davor, zwischen den geschliffenen Wortmühlen des anderen zermalmt zu werden. Wer hat Angst vor diesem bösen Wolf? In intellektuellen Kreisen wird der Kindervers parodiert: „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ Bis dem Selbsttäuscher dieses Finis bevorsteht, weiß Martha eine provisorische Lösung: „Wir weinen, stellen unsere Tränen in den Eisschrank, bis sie zu Eis gefroren sind, und dann tun wir sie in unseren Whisky“.
Albee hat seine Tränen wohl in die Figuren einfließen lassen. Maurer hat sie dank erfrischender Darstellung und einer symbolträchtigen Inszenierung herausfließen lassen, ohne sentimental zu werden. Doch dies ließe Albees Vorlage wohl auch nicht zu.