Die IGSS hat ausgerechnet, wie sich mehr Renten-Beitragsjahre auswirken würden

Schaffen fir de System

Samstag, 28. Juni: Jean-Marie Hoffmann, Inhaber der Bäckerei-Kette, auf der Terrasse seines Geschäfts in der Stater Avenue de  l
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 04.07.2025

„Mir wäerten d’Cotisatiounsjoren lues a lues eropfueren.“ Die Ankündigung von CSV-Premier Luc Frieden am 13. Mai im état de la nation über die „Stoßrichtung“ der Regierung für eine Rentenreform überraschte alle. So hatte das in den Konsultationsrunden mit CSV-Sozialministerin Martine Deprez niemand verlangt. OGBL und LCGB sahen darin einen erneuten Bruch des Sozial-
dialogs. Die Staatsbeamtengewerkschaft CGFP zürnte, das sei „gar kein Sozialdialog“.

Nach ein paar Tagen Bedenkzeit nannte die Arbeitnehmerkammer (CSL) die Idee der Regierung eine Scheinlösung. „Son impact financier pour le système est modeste“, urteilte sie, „tandis que son coût social risque d’être considérable.“ Rein buchhalterisch betrachtet, könne die Verlängerung der Beitragsjahre die Rentenausgaben kurzfristig senken. Doch mit der Zeit würde die Ersparnis neutralisiert „par un effet mécanique du système actuel: plus un assuré travaille longtemps, plus sa pension finale est élevée“.

Wie die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) die Sache sieht, wird es eine Neutralisierung nicht geben. Allenfalls eine Stabilisierung um das Jahr 2050. In einem diese Woche auf ihrer Internetseite veröffentlichten Aperçu (Nr. 29) geht sie zwar nicht direkt auf das Argument der CSL ein. Aber sie liefert der Sozialministerin Daten zur Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage aus der LSAP-Fraktion. Die wollte wissen, welche Auswirkungen mehr Beitragsjahre hätten. Martine Deprez antwortete diesen Montag: Es käme zusätzliches Geld ins System und künftige Versicherte müssten weniger zur Finanzierung der Renten beitragen – wodurch langfristig auch kleinere neue Rentenansprüche entstünden.

Ein wichtiger Grund: Würden ab 2030 jedes Jahr drei Monate mehr an Beitragszeit verlangt, ehe eine vorgezogene Altersrente angetreten werden kann, würden zusätzliche Beiträge auf Gehälter fin de carrière in die Kasse fließen. Keine zusätzlichen Beiträge auf die ersten Salärs von Berufseinsteigern, die vielleicht zum qualifizierten Mindestlohn ins Arbeitsleben eingetreten sind.

Laut IGSS würde sich gegenüber einem schon etwas in die Jahre gekommenen „Basisszenario“ von 2022 der sogenannte „Lastkoeffizient“ aus der Zahl der Renten im Privatsektor gegenüber den Beitragszahlern schon 2035 um fünf Prozentpunkte verbessern, wenn ab 2030 jedes Jahr drei Monate mehr Beitragsdauer Pflicht würden. Im Basisszenario gäbe es 2035 rund 338 000 Renten, die dann 57 Prozent von geschätzten 595 000 Beitragszahlern entsprächen. Die Beitragszeit-Verlängerung bis zur vorgezogenen Rente, die 2035 bei 18 Monaten angekommen wäre, würde den Lastkoeffizient auf 52 Prozent senken: 320 000 Renten stünden 619 000 Beitragszahlern gegenüber. 2040 läge der Lastkoeefizient bei 55 Prozent, statt 63 Prozent bei „politique constante“.

Die Rentenausgaben lägen 2040 bei schätzungsweise 10,3 Prozent vom BIP, statt bei 11,2 Prozent im Basisszenario. Und selbst wenn man aus dem Szenario mit verlängerter Beitragsdauer alle Wachstumsannahmen von BIP und Beschäftigung herausrechnen würde, die im Basisszenario stecken, würde gegenüber diesem der reine Impakt der Verlängerung im Jahr 2035 zu um einen halben BIP-Prozentpunkt kleineren Rentenausgaben führen, 2040 zu 0,4 Punkten weniger und 2050 zu 0,2 Punkten weniger. Was die IGSS mit „Stabilisierung“ meint. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte fallen einfach mehr Renten an. 2070 würde der Lastkoeffizient 79 Prozent erreichen, auch wenn es ab 2050 keine vorgezogene Rente mehr gäbe – dann hätten sich die jährlich drei Monate mehr zu fünf Jahren addiert. Ohne Beitragsverlängerung schätzt die IGSS den Koeffizienten 2070 auf 112 Prozent: 755 000 Renten gegenüber 677 000 Beitragszahlern.

In einem zweiten Teil hat die IGSS simuliert, was Rentner/innen, die in den 2030-er, beziehungsweise 2050-er Jahren in den Ruhestand gehen, gewinnen oder verlieren würden, falls ab 2030 die für eine vorgezogene Rente obligatorische Beitragsdauer nach und nach steigt. Und wie sich das verhielte, wenn sie nicht steigt. Jeder Rentenversicherte individuell findet sich in dieser Simulation nicht wieder: Die IGSS nimmt zur Vereinfachung an, dass jeder über eine ganze Karriere Beiträge auf ein Bruttogehalt vom zweifachen Mindestlohn zahlen würde. Was ungefähr dem Durchschnitt der aktuellen Beitragsmasse entspricht. Die IGSS berücksichtigte auch, dass neu zuerkannte Renten auf die Reallohnentwicklung „revalorisiert“ werden.

So gesehen, ergeben sich aus längerer Beitragszeit höhere Renten, was logisch ist. Je länger weitergearbeitet wird, desto höher wird die „Lohnersatzrate“, der taux de remplacement. Er kann sogar sehr hoch werden: Würde eine Person im Jahr 2057 in Rente gehen, mit 65 und dann fünf obligatorisch gewordenen zusätzlichen Beitragsjahren, läge für sie der taux de remplacement bei 84,8 Prozent der Brutto-Gehaltsmasse, auf die sie im Laufe der Karriere Beiträge zahlte. Würde die Rente ohne zusätzliche Beitragszeit 2052 angetreten, betrüge die Lohnersatzrate nur 70,1 Prozent. Der große Unterschied kommt daher, dass die Rentenreform von 2012 alle Rentenleistungen über 40 Jahre gestreckt und bis 2052 um durchschnittlich 13 Prozent kürzt.

Deshalb hätte, wer früher in Rente geht, auch ohne mehr Beitragsjahre auf jeden Fall eine Lohnersatzrate von mehr als 70,1 Prozent. Wer den Ruhestand 2033 anträte, ohne dass die Stoßrichtung der aktuellen Regierung Gesetz geworden wäre, und das im Alter von 60 täte, mit 37 Beitrags- und drei für den „Stage“ angerechneten Studienjahren, erhielte einen taux de remplacement von 73,9 Prozent. Wären ab 2030 Jahr für Jahr drei Monate mehr Beitragszeit obligatorisch geworden, könnte dieselbe Person erst 2034 in Rente gehen, mit einer Lohn-
ersatzrate von 76,8 Prozent. Wer 2038 anstelle 2036 den Ruhestand antritt, weil dann zwei Jahre mehr Beitragszeit Pflicht geworden sind, hätte eine Lohnersatzrate von 78,6 Prozent statt 72,7 Prozent, wenn der Renteneintritt ohne méi laang schaffen schon 2036 erfolgt.

Dass niemand etwas verlieren werde, ist eine zentrale Aussage der IGSS aus ihrer Modellierung. Doch darum geht es ihr nicht in erster Linie. Sondern sie will zeigen, dass eine Verlängerung der Beitragsdauer gut fürs System wäre, auch wenn höhere Rentenansprüche entstehen. Dazu nimmt die IGSS an, das geltende Umlageverfahren sei eines mit Kapitaldeckung und einem über die Jahre angesparten Kapitalstock stünde ein Erlös an Leistungen gegenüber. OECD und EU-Kommission wenden solche Betrachtungen auf umlagefinanzierte Systeme regelmäßig an, um zu zeigen, dass sie nicht nachhaltig sind.

Welches Nachhaltigkeitsproblem des Luxemburger System hat, geht aus den Modellierungen der IGSS hervor. Ohne Verlängerung der Beitragsdauer würde, wer 2033, 2036 oder 2052 jeweils mit 60 eine vorgezogene Rente antritt und dann 37 Beitragsjahre hätte (und vielleicht drei Studienjahre angerechnet bekäme), während der beruflich aktiven Zeit das Äquivalent von 8,9 Jahresgehältern in die Kasse einzahlen, würde dagegen zwischen 17,1 und 17,6 Jahresgehälter an Rente beziehen. Damit die Rentenkasse nicht pleite geht, wäre ein kontinuierliches Beschäftigungs- und damit Beitragszahlerwachstum von mehr als 2,1 Prozent jährlich nötig.

Mit um je drei Monate verlängerter Beitragsdauer ab 2030 bliebe die Entnahme aus dem System ziemlich unverändert: 17,2 bis 17,8 Jahresgehälter. Dagegen würde deutlich mehr eingezahlt. Keine 8,9 Jahresgehälter, wie ohne méi laang schaffen, sondern zwischen 9,1 im Jahr 2034 und 10,1 im Jahr 2057. Weil das abstrakt ist und politisch nicht gut anwendbar, hat die IGSS ausgerechnet, wie dieser Gewinn an Einzahlung sich im Mindest-Beschäftigungswachstum niederschlüge. Welches der entscheidende Faktor für eine umlagefinanzierte Sozialversicherung ist (gegenüber dem Erlös an den Finanzmärkten für eine kapitalgedeckte Versicherung). Resultat: Die Mindest-Wachstumsrate der Beschäftigung würde kontinuierlich kleiner. 2057 würde sie nur noch 1,74 Prozent im Jahr betragen, 0,4 Prozentpunkte weniger als ohne eine Verlängerung der Beitragszeit sowohl in den 2030-er als auch den 2050-er Jahren immer nötig wäre. Oder: Mit jedem zusätzlichen Beitragsjahr, das obligatorisch wird, müsse eine Kohorte neu ins Arbeitsleben Eintretender rund 0,4 Jahresgehälter weniger zur Rentenkasse beisteuern.

Soweit die buchhalterische Betrachtung. Wenn nächsten Mittwoch Gewerkschaften und UEL mit dem Premier über die Renten reden, dürfte zur Sprache kommen, dass mehr Beitragsjahre allein das System nicht auf Dauer absichern. Wofür die IGSS-Modellierung einen Beweis liefert: Ein Zuwachs in der Beschäftigung, wenn auch ein tendenziell kleinerer, bleibt nötig. Die Gewerkschaften dürften auf zusätzlichen Einnahmen bestehen, die UEL auf Einschnitten bei den Leistungen. Die Regierung hat sich seit vergangenem Monat öffentlich nicht mehr dazu geäußert, wann und in welchem Umfang die Staatskasse die Rentenreserve mit Geld aus einer „Konsumsteuer“ stützen könnte.

Eine soziale Betrachtung hat die IGSS nicht angestellt. Sie war nicht Gegenstand der Modellierung, drängt sich jedoch auf. Die spannende Frage lautet, wie lange eine Rente mit höherem taux de remplacement genossen werden kann. Wer länger arbeitet, verliert freie Zeit bei guter Gesundheit. Die IGSS hat für ihre Simulationen anhand der vom Statec berechneten statistischen Lebenserwartung 60-Jähriger unterstellt, dass für in den 2030-er Jahren Pen-
sionierte der „âge de décès“ bei 86 liegen werde, in den 2050-er Jahren bei 88. Daraus ergeben sich 23 bis 24 Jahre in Pension für die simulierten Beispiele. Wie viele Jahre davon bei guter Gesundheit verbracht werden und nicht in Polymorbidität und am Ende in Langzeitpflege, macht eine Gerechtigkeitsfrage für ganze Berufs- und Einkommensgruppen auf. Vielleicht publiziert die IGSS dazu demnächst einen weiteren Aperçu: Der Linken-Abgeordnete Marc Baum will mit einer parlamentarischen Anfrage ergründen, welche Auswirkungen die „Stoßrichtung“ auf Lebenserwartung und „Lebensqualität“ im Alter je nach „catégories socioéconomiques et -professionnelles“ hätte.

Peter Feist
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