Wie bei der letzten Rentenreform ist auch diesmal alles noch vage. Doch mit vorgezogenen Renten soll möglichst Schluss sein. Wenn der Sozialdialog glückt

„Lues a lues“

Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 23.05.2025

Martine Deprez hatte am Mittwoch einen aufreibenden Tag. Am Morgen war sie im parlamentarischen Sozialausschuss, am späten Vormittag vor der Presse. Beide Male ging es um die Rentenreform. 14 Uhr war Termin in Düdelingen für eine Krankenkassen-Quadripartite. Abends war die Gesundheits- und Sozialministerin von der CSV zu den Renten im „Journal“ von RTL-Télé. Und gab sich wie schon am Vormittag Mühe, die Wogen zu glätten, die CSV-Premier Luc Frieden vergangene Woche mit seiner Erklärung zur Lage der Nation und in der Debatte danach zum Wallen gebracht hatte. Weil ab einem noch zu definierenden Zeitpunkt verlangt werde, länger zu arbeiten, um eine vorgezogene Rente antreten zu können. Martine Deprez fügte am Mittwoch hinzu, wie viel länger, bleibe noch zu entscheiden.

Es soll überhaupt noch viel zu diskutieren und zu entscheiden bleiben. Am Morgen im parlamentarischen Ausschuss hätten die Abgeordneten von der Ministerin dieselbe Rede vernommen wie später die Presse, lästerte der LSAP-Abgeordnete Mars Di Bartolomeo gegenüber dem Wort. Der rentenpolitische Sprecher der DP-Fraktion, Gérard Schockmel, stellte im Gespräch mit dem Land fest, „vieles ist noch unklar“, von der Verlängerung der Beitragsjahre bis hin zu dem angekündigten Zuschuss aus der Staatskasse zur „Stabilisierung“ der Rentenkasse. Und zu der „progressiven Rente“, wie es im öffentlichen Dienst schon eine gibt. Seit 2018 kann dort zwischen 25 und 90 Prozent weitergearbeitet werden, für den Rest gibt es Pension.

Die besondere Herausforderung für Martine Deprez am Mittwoch lag darin, das von Luc Frieden im Chef-Ton Vorgetragene in eine sympathischere Erzählung zu kleiden. „Lues a lues“, betonte sie, werde die Vorschrift, länger zu arbeiten, sich auswirken. Ab wann, sei noch nicht ausgemacht. „Vielleicht“ ab 2030. Ob jedes Jahr drei Monate hinzukämen, bleibe auch noch zu diskutieren. Womöglich würden es am Ende zwei. Bemerkenswert am Bekenntnis zur Flexibilität ist auch, dass die Ministerin – „dazu wurde ich beauftragt“ – in den nächsten Wochen mit den Gewerkschaften und dem Unternehmerdachverband UEL in einen „Sozialdialog“ über die Ideen der Regierung treten will. Wenn nicht alles täuscht, hofft die Regierung damit zu verhindern, dass die von OGBL und LCGB angekündigte Großkundgebung am 28. Juni zur regelrechten Renten-Maniff wird, die sehr gut besucht ist. Zumal nicht auszuschließen ist, dass sich dem Renten-Protest der beiden Gewerkschaften des Privatsektors auch die CGFP anschließt. Die verlangt zu den Renten die Einberufung einer Tripartite. Davon wollte Martine Deprez am Mittwoch noch nichts hören. Sie treffe die Sozialpartner zunächst mal jeden für sich.

Weshalb die Regierung sich ausgerechnet dazu entschied, als Highlight ihrer Reform mehr Beitragsjahre für eine vorgezogene Rente (oder Pension im öffentlichen Sektor jenseits des Übergangsregimes) verlangen zu wollen, ist nicht klar. Die Sozialministerin hat das bisher nicht erläutert und nur gesagt: „Das ist unsere Stoßrichtung.“

Es ist ein enormer Stoß und ein Kulturbruch. Eine vorgezogene Rente kann ab 57 nehmen, wer 40 Beitragsjahre hat. Das gilt seit 1991. Ab 60 kann in Rente gehen, wer 40 Beitrags- oder Ergänzungsjahre, wie Studienzeiten, vorweisen kann. Das ist seit 1987 möglich. Dass die seit Jahrzehnten geltenden Regeln zur Gewohnheit geworden sind, versteht sich. Laut einem Bericht der Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) vom Herbst 2024 für den Privatsektor wurde in den Jahren 2011 bis 2023 eine Rente nach im Schnitt 39,9 Jahren angetreten. Also sobald es die Regeln erlaubten. Wer eine vorgezogene Rente antrat, war 2012, vor der letzten Pensionsreform, im Schnitt 59,7 Jahre alt. 2024 war der Schnitt um fünf Promillepunkte auf 60,2 Jahre gestiegen.

Doch die politische Analyse davon lautete bisher, dass ein längerer Verbleib im Arbeitsleben sich durch eine weitere Rentenkürzung sowieso ergeben werde. In einem großen Land-Interview Anfang 2024 dachte Martine Deprez laut darüber nach, den auf 40 Jahre gestreckten Kürzungseffekt um 15 Prozent der Rentenreform von 2012 auf 20 Jahre zu stauchen. An die Beitragsdauer wollte sie damals nicht rühren. „Wer 40 Jahre für die Gesellschaft da war, hat es, denke ich, verdient, in Rente gehen zu dürfen.“ Sie fügte hinzu: „zu dürfen, wir zwingen ja keinen“ (d’Land, 5.1.2024).

Dass die Regierung nun zum Zwang greifen will, wenn auch lues a lues, wird Folgen haben in der Diskussion im Sozialdialog. Inwieweit die Verlängerung das System „absichern“ wird, ist unklar. Zahlen hat die Ministerin noch nicht. Nur eine, wie sie am Mittwoch sagte, „grobe Schätzung“ der IGSS: Die sogenannte prime de répartition pure – das Verhältnis der Jahresausgaben der Rentenkasse zu ihren Einnahmen aus Beiträgen – könne sich um drei bis bis fünf Prozentpunkte verkleinern. Das ist ziemlich viel. Beispiel: Wegen des schwachen Zuwachses an Beschäftigung und Beitragszahlern bei gleichzeitig steigender Zahl der Renten rechnet die IGSS damit, dass 2026 die prime so groß werden könnte wie der Beitragssatz. Davon drei Prozentpunkte weniger würden dem Stand der Jahre 2010 und 2011 entsprechen. Da lag die prime bei 20,8 beziehungsweise 21,2 Prozent. Zwar herrschte damals noch Wirtschaftskrise. Doch 2011 zahlte die Rentenkasse rund 108 000 Altersrenten. Ende 2023 waren es 156 000.

Eine etwas weiter reichende Simulation stellte die IGSS für den vor vier Wochen erschienenen Bericht der OECD über die Luxemburger Wirtschaft an: Läge zwischen 2026 und 2070 das tatsächliche Renteneintrittsalter fünf Jahre höher als derzeit, hätte die Rentenkasse 2040 um 0,4 BIP-Prozentpunkte kleinere Ausgaben. 2070 wären sie um 1,2 Punkte kleiner. Vergleichen kann man die beiden Rechnungen vermutlich nicht. Doch wie Martine Deprez und vor ihr schon der Premier erklärt hat, will die Regierung das System bis 2040 absichern. Wenn die OECD-Rechnung nicht falsch zu verstehen ist, dann ist die finanzielle Tragweite von dem, was die Regierung vorhat, bis 2040 klein. Die UEL wird ihr das vorhalten.

Aber wahrscheinlich ist das wichtigste politische Ziel der Reform nicht die finanzielle Absicherung. Ebenso wenig wie in der Reform von 2012. Die sollte in erster Linie nach drei Jahrzehnten sukzessiver Rentenerhöhungen den Rückwärtsgang einlegen. Hauptsache ein bisschen rückwärts. Schon das war politisch anspruchsvoll. Ähnlich wie Martine Deprez am Mittwoch gingen am 17. März 2011 auch LSAP-Sozialminister Mars Di Bartolomeo und CSV-Finanzminister Luc Frieden nur mit „Leitlinien“ in einen Kammerausschuss. Den Gesetzentwurf lieferten sie zehn Monate später. In der Zwischenzeit feuerten Gewerkschaften und UEL aus allen Rohren auf die Leitlinien.

Das politische Hauptziel diesmal ist offenbar, weitgehend Schluss zu machen mit vorgezogenen Renten und Pensionen. Lues a lues. „Flächendeckend in Europa“, betonte Martine Deprez bei ihrem point de presse, würden die Altersgrenzen für den legalen Renteneintritt erhöht. In Luxemburg dagegen werde er bei 65 Jahren bleiben, „das steht fest“.

Vielleicht hat die Prioritätensetzung neben den Renten auch mit der stagnierenden Beschäftigung zu tun: Wenn die Nachbarländer als Reservoirs zur Rekrutierung weniger zur Verfügung stehen, sollen die Betriebe länger halten, was sie haben, vielleicht mit retraite progressive. Doch die ist nicht leicht zu haben; LSAP-Arbeitsminister Nicolas Schmit scheiterte 2015 damit. Vorgezogene Renten abzuschaffen, bringt Gerechtigkeitsprobleme. Einerseits für Jobs mit travaux pénibles. Die Diskussion darüber will die Ministerin führen. Doch aus Rentenversicherungssicht müsste über eine ganze Berufskarriere erfasst werden, ob es travaux pénibles gab und wie lange. Das dürfte schwierig sein und vielleicht nur möglich für neu ins Berufsleben Eintretende. Ganz abgesehen davon, dass travaux pénibles erst einmal definiert und in einem Katalog erfasst werden müssten.

Die andere Ungerechtigkeit, die droht, ist grundsätzlicher. Menschen mit niedrigem Einkommen haben eine kleinere Lebenserwartung als Besserverdienende. Dadurch subventionieren sie die Renten Letzterer. Statistiken dazu gibt es in Luxemburg nicht, aber die für Privatrentenverträge im drëtte Pilier benutzten „Sterbetafeln“. Die stammen aus den Nachbarländern. Sie gehen davon aus, dass wer Rentensparverträge abschließt, besser verdient und mehr auf sich achtet. Im Versicherer-Jargon heißt das „Autoselektion“ und führt zur Annahme, dass Lebensalter von 90 und mehr erreicht werden. Unter anderem, weil daraus für private Rentensparer kleine monatliche Renten folgen, zieht das Gros der Kunden im drëtte Pilier lieber das angesparte Kapital auf einmal ab.

Gegenüber dem Land Anfang 2024 hatte die Sozialministerin eine Diskussion über den Zusammenhang von Einkommen, Lebenserwartung und Quersubvention „gefährlich“ genannt. Und unnötig, weil ja nach 40 Beitragsjahren sogar schon ab 57 eine Rente möglich sei. Die Reform-Stoßrichtung jetzt könnte das Gerechtigkeitsproblem aus den Einkommensunterschieden noch verschärfen. Wenn die Anrechnung von Ausbildungszeiten nicht nur beibehalten, sondern „flexibilisiert“ wird, könnten Beschäftigte mit Hochschulabschluss, die überwiegend zu den Besserverdienenden zählen dürften, nicht nur wegen ihrer höheren Lebenserwartung länger ihre Rente genießen. Sondern bei Anrechnung ihrer Studienjahre schon mit 60 oder vielleicht 62 aus dem Berufsleben ausscheiden wie bisher.

Dieses Zugeständnis will die Regierung an die jungen Generationen machen. Jedenfalls an die Gebildeten unter ihnen. Wird das erst einmal verstanden, ist die Rentenreform vielleicht keine Gefahr bei den nächsten Wahlen. Dann bleibt nur noch eine Erzählung zu finden für die Kürzung oder Abschaffung der Anpassung der bestehenden Renten an die Reallohnentwicklung. Vielleicht mit dem Hinweis darauf, dass die Produktivitätsentwicklung eh nicht mehr so hoch ist, der Verlust der Anpassung also klein, und der Index bleibt. Für den Fall der Fälle gab Martine Deprez im März bei der Rentendebatte in der Kammer den Hinweis, die Manipulation der Anpassung sei keine Idee der aktuellen Regierung, sondern die von 2012 habe das in ein Gesetz geschrieben. Mars Di Bartolomeo wusste genau, gegen wen die Bemerkung gerichtet war.

Peter Feist
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