Die Rechnung ist aufgegangen. Die Ende Mai vom Parlament verabschiedete Änderung des Wahlgesetzes setzte die erwartete Eigendynamik frei: Am vergangenen Wochenende verzichteten, nach CSV und Grünen, formell auch die DP und, noch informell, die LSAP auf Doppelkandidaturen bei den Landes- und Europawahlen nächstes Jahr.
Dabei senkt das neue Gesetz über die Europawahlen lediglich die Zahl der Kandidaten pro Liste von zwölf auf sechs. Bis zu seiner Verabschiedung hatten sich die Parteien nicht auf ein Verbot von Doppelkandidaturen einigen können. Anders als die Unvereinbarkeit der Mandate wurde zudem eine Unvereinbarkeit der Kandidaturen als eine Einschränkung des von der Verfassung garantierten passiven Wahlrechts angesehen.
Doch nun heißt es umdenken, insbesondere bei den drei großen Parteien, auf deren Europalisten 2004 fast ausnahmslos Minister und nationale Abgeordnete als landesweit bekannte Stimmenfänger kandidierten. Weil die CSV davon ausgeht, auch der nächsten Regierung anzugehören, kann sie nicht mehr ihre populärsten Politiker bei den Europawahlen aufstellen. Werden diese nämlich Minister, bleiben der Partei bei nur noch sechs Kandidaten keine Ersatzgewählten mehr, um nach Straßburg zu fahren.
LSAP und DP hielten dagegen bisher eher an den viele persönliche Stimmen versprechenden Doppelkandidaturen fest – weil die beiden Parteien nicht wissen, welche von ihnen der nächsten Regierung angehört. Da ist es dann praktisch, wenn ihre Leute sich nicht schon vor den Wahlen für den Krautmarkt oder das Europaparlament entscheiden müssen. Doch nachdem sie als Panikreaktion auf das Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag kurze Zeit angekündigt hatten, Landes- und Europawahlen an verschieden Tagen abhalten zu wollen, um die Europapolitik aufzuwerten, befürchteten sie nun, dass die Glaubwürdigkeit verlangt, es der CSV nachzutun.
Der Druck nahm dadurch zu, dass sich mit den Grünen eine zweite Partei verpflichtet hatte, auf Doppelkandidaturen zu verzichten. So dass von den fünf im Parlament vertretenen Parteien lediglich die ADR Doppelkandidaturen beibehalten wird. Sie hat wenig Chancen, einen Sitz im Europaparlament zu erhaschen, und nicht genug Kandidaten, um diese für solch aussichtslose Unterfangen zu verheizen.
Mit Ausnahme der ADR stellt das Ende der Doppelkandidaturen sämtliche Parteien in diesen Tagen vor teils schmerzliche, teils überfällige Personalentscheidungen. Von den drei Europaabgeordneten der CSV will der ehemalige Minister und Parteivorsitzende Jean Spautz nicht mehr antreten. Astrid Lulling, die viele in der Partei in den wohlverdienten Ruhestand schicken wollen, streitet dagegen für eine neue Kandidatur – mit dem Hinweis, dass man ihr mit ihren 80 Jahren doch gönnen soll, Alterspräsidentin in Straßburg zu werden. Auch die unsanft nach Straßburg abgeschobene ehemalige Ministerin und Parteipräsidentin Erna Hennicot-Schoepges bestätigte gegenüber dem Land, dass sie erneut kandidieren möchte. Dafür muss die Partei auf ihre Stimmenfänger Jean-Claude Juncker, Luc Frieden und François Biltgen verzichten, die ihrer Europaliste 2004 Zehntausende persönliche Stimmen und den zweiten LSAP-Sitz in Straßburg einbrachten. Agrarminister Fernand Boden, dem nach 30 Jahren in der Regierung ein Teil der Partei noch eine Ehrenrunde in Straßburg gönnen will, besteht darauf, wieder im Osten zu den Landeswahlen kandidieren zu dürfen. Der EU-Kommissarin Viviane Reding wird in der CSV nachgesagt, an einer Kandidatur bei den nationalen Wahlen interessiert zu sein, um mit ihrem Wahlergebnis ein Regierungsamt beanspruchen zu können, doch so lange Jean-Claude Juncker Premier bleibt, dürfte dies schwierig sein.
Bei der Doppelkandidaturen bis zuletzt abgeneigten LSAP kandidierten 2004, außer dem Europaabgeordneten Robert Goebbels, der sich nach der Wahlniederlage von 1999 aus der nationalen Politik zurückzog, und dem ehemaligen Staatssekretär Georges Wohlfart, nur Politiker, die heute Regierungsmitglieder oder nationale Abgeordnete sind. Der 2004 gleich hinter Jean Asselborn gewählte ehemalige Wirtschaftsminister Goebbels bestätigte gegenüber dem Land sein Interesse an einer erneuten Kandidatur und hofft, dass die LSAP ohne die Juncker-Konkurrenz auf der CSV-Europaliste ihren zweiten Sitz in Straßburg zurückgewinnt. Von getrennten Listen erwartet er sich nicht zuletzt eine eigenständige europapolitische Debatte.
Die DP nutzt dagegen den lange diskutierten Verzicht auf Doppelkandidaturen zur Personalpolitik. Die Europaabgeordnete und Ex-Außenministerin Lydie Polfer will bei den nationalen Wahlen kandidieren, um dem 2004 zweitgewählten Charles Goerens, dem derzeitigen Fraktionspräsidenten am Krautmarkt, ihren Sitz in Straßburg zu überlassen. Goerens war nach der Wahlniederlage 1994 schon einmal ins Straßburger Exil gezogen.
Bei den Grünen soll der Europaabgeordnete Claude Turmes am 5. Oktober in Hollerich zum Spitzenkandidaten gekürt werden, um den grünen Sitz in Straßburg auch ohne die Tausenden von persönlichen Stimmen nationaler Abgeordneter zu verteidigen. Doch wie die Reduzierung der Kandidatenzahl und der Verzicht auf die persönlichen Stimmen prominenter Stimmenfänger bei allen Parteien die Sitzverteilung beeinflussen wird, zeigt sich erst am Abend des 7. Juni.