Verstärkte Schlagabtausche zwischen CSV und DP sind für gewöhnlich ein guter Gradmesser dafür, dass die Wahlen näher rücken. Inzwischen vergeht kaum eine Woche, dass sich beide Parteien nicht gegenseitig vorwerfen, die Entwicklung des Landes in zentralen Punkten zu blockieren. Zuletzt konnte die CSV punkten: Bei der Abstimmung über die Laborschule enthielt sich eine blaue Mehrheit, während die Schwarzen geschlossen für das Projekt stimmten.
Die mit Fingerzeig auf die Euthanasie-Votum mit neuer Verve erhobene Schelte, die Christlich-Sozialen wären in wichtigen Gesellschaftsfragen chronische Bremser, ist etwas voreilig. Tatsächlich haben sie in dieser Legislaturperiode einige Themen im Sozialbereich angepackt, wenngleich nicht unbedingt im Sinne der Opposition. Beispiel Beschäftigungsinitiativen. Wegen der Kritik von Privatunternehmen an der „unlauteren Konkurrenz“ durch die staatlich subventionierten Beschäftigungsinitiativen, versprach die damalige schwarz-blaue Regierung, einen gesetzlichen Rahmen für die Beschäftigungsinitiativen auszuarbeiten. Fünf Jahre später ist unter der schwarz-roten Koalition zwar noch immer kein Gesetz verabschiedet. Dafür hat der CSV-Abgeordnete und Forum pour l’Emploi-Präsident Ali Kaes in letzter Minute einen Text durch die zuständige Parlamentskommission geboxt, der den privilegierten Status der gewerkschaftsnahen, als Asbl organisierten Initiativen festschreiben würde (d’Land, 8.2.2008). Lange Übergangsfristen würden dafür sorgen, dass Beschäftigungsinitiativen wie der an ihrem bisherigen Geschäftsgebaren vorerst nicht viel ändern müssten. Das ursprüngliche Anliegen, insbesondere die betriebsnahen Beschäftigungsinitiativen zu fördern, weil diese angeblich die besseren Resultate bei der Wiedereingliederung von Erwerbslosen lieferten, sowie das Versprechen, durch klare Regeln für mehr Transparenz im Sektor zu sorgen, waren plötzlich vergessen. Die LSAP unterstützte den Koalitionspartner. Immerhin ist ihr Abgeordneter John Castegnaro Präsident der OGBL-nahen Initiative OPE, und die würde vom neuen Text profitieren. Aber auch bei DP und Déi Gréng regte sich kaum Widerspruch.
Im Heimsektor plant das CSV-geführte Familienministerium ebenfalls umafssende Neuerungen. Der Änderungsdruck ist wegen der anhaltenden Kritik vor allem aus dem Ausland an der hohen Zahl gerichtlicher Heimplatzierungen in diesem Bereich besonders groß. Weil auch dort über Jahrzehnte Angebote wie Pilze aus dem Boden schossen und keine verbindlichen Qualitätsstandards existieren, schwankt das Leistungsangebot erheblich. „So konnte es nicht weitergehen“, gibt der Präsident des Heimträger-Dachverbands EGCA, Jeff Weitzel zu. Mit der im Gesetzentwurf zur Aide à l’enfance vorgesehenen Abkehr von der Restrisikofinanzierung und der Einführung eines Jugendamts hofft Familienministerin Marie-Josée Jacobs die hohen Kosten des Sektors von rund 23 Millionen Euro zu drosseln und den Geist wieder einzufangen, den sie zum Teil selbst aus der Flasche gelassen hat.
Auch dieser Paradigmenwechsel blieb bislang seltsam unkommentiert. Bis zum heutigen Tag hat sich keine einzige Partei zum Gesetzesvorhaben geäußert. Dabei ist das Streitpotenzial enorm. Die Entrüstung der Jugendrichter, die zu Recht fürchteten, in ihren Kompetenzen beschnitten zu werden, kühlte erst ab, als das Ministerium ihnen die Hoheit über jene Fälle zusicherte, bei denen es um delinquente Jugendliche geht. Doch wie das vornehmlich aus fachfremden Beamten zusammengesetzte Jugendamt zu bestehenden Strukturen, wie dem Service central de l’assistance sociale oder das Ombudskomitee fir d’Rechter vum Kand positioniert, ist nach wie vor ungeklärt.
Im Sektor hat das Vorhaben gleichwohl hektische Betriebsamkeit ausgelöst. So haben die Heimleiter erstmals eigene Qualitätsstandards definiert, und auch die Uni Luxemburg will, im Auftrag des Familienministeriums, noch in diesem Jahr Standards für den gesamten Sektor vorlegen. Derweil versuchen die Heimträger, die verschiedenen Behandlungskosten intern zu beziffern, um eigene Vorschläge für ein Tarifsystem machen zu können – und ernten Kritik aus den eigenen Reihen, weil sie sich zum Handlanger staatlich verordneter Sparmaßnahmen machen. Der typische Reflex, zunächst Infrastrukturen vorzusehen und die Inhalte dann nachreichen zu müssen, ist indes ungebrochen: Obwohl das Gesetz den Bau der Unité de sécurité in Dreiborn schon 2004 verabschiedet wurde, liegt noch immer kein Konzept auf dem Tisch. Die Zahl der Heimplatzierungen und Auslands-überweisungen steigt derweil weiter.
Diese Unfähigkeit der Politik, Visionen zunächst fachlich zu durchdenken und daraufhin eine kohärente Marschroute zu entwickeln, die bestehende Angebote von Beginn an mit einbezieht, ist auch der Grund dafür, dass im Erziehungsbereich das nächste Riesenproblem heranwächst. Nachdem Anfang 2000 die schwarz-blaue Regierung endlich den massiven Mangel an Kindergarten- und Krippenplätzen eingestand, preschte das Familienministerium mit der Idee vor, in jeder Gemeinde so genannte Maisons relais einzurichten. Wie schon bei den Heimen ohne jede koordinierte Strategie, wie sich die ursprünglich als Auffangstruktur gedachte Betreuungseinrichtungen in bestehenden Strukturen einfügen sollten. Dass der Gesetzgeber „das zunächst anders gedacht“ hat, sagt auch der zuständige Koordinator der Caritas, Manuel Achten. Heute propagiert Familienministerin Marie-Josée Jacobs, und mit ihr die katholische Wohlfahrtsorganisation, die Maisons relais als Bindeglied zwischen Schule und Elternhaus.
Frühkindliche Förderung heißt die neue Zauberformel. Doch in den Maisons relais befinden sich nicht nur Kinder von 0 bis vier Jahren, sondern auch Schulkinder. Und anders als beispielsweise in Dänemark oder Finnland, wo Kindergärtnerinnen einen Hochschulabschluss haben und den Hauptanteil des Tagesstätten-Personals stellen, hat in den Caritas-Einrichtungen nur jeder dritte Mitarbeiter einen Bac-3-Abschluss.
Mindestens so dringlich wie die Qualitätsfrage ist die nach der Beziehung zwischen Betreuungseinrichtungen und Schule. Im am Mittwoch vorgestellten Sozialalmanach 2008 definiert die Caritas den „Förderungsauftrag“ der Maisons relais wie folgt: Vom Bildungsauftrag unterscheide er sich „in dem Punkt, dass er keine Leistungsdruck aufbauenden Bildungsziele kennt, sondern eine freie Entfaltung der Kinder zum Ziel hat“. Was bedeutet das aber für die Schulentwicklung?
Bildungsexperten mahnen seit Jahren, um ungleiche Startchancen bei der Bildung zu mindern, müsse die Schule den Unterricht stärker differenzieren und dürfe die Erziehungsaufgabe nicht länger allein den Elternhäuser überlassen. Das sieht auch die sozialistische Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres so und hat deshalb im Gesetzentwurf zur Primärschule multiprofessionelle Teams von Erziehern, Psychologen und Therapeuten sowie eine engere Vernetzung mit den Maisons relais vorgesehen. Anders als die CSV-Familienministerin, die von sich sagt, „keine Adeptin der Ganztagsschule“ zu sein, sprach sich Delvaux-Stehres stets für Ganztagsschulen aus und hat ja auch drei Modellversuche auf die Schiene gesetzt. Deren gemeinsames Motto: mehr Motivation durch Spaß am Lernen. Wenn aber die Schule sich allmählich vom reinen Pauken und Notenstress verabschiedet, wozu dann pädagogisch aufgemotzte Maisons relais, außer vielleicht für die Frühförderung der Kleinen und für die Zeit, wo die Schule nicht da sein kann?
Das sind alles Richtungsfragen, die erörtert gehören, bevor Unsummen für Infrastrukturen verplant werden. 23,4 Millionen Euro hat der Staat im Haushalt 2007 für die Maisons relais veranschlagt. Inzwischen hat fast jede Gemeinde eine Maison relais, wobei die Qualität des Angebots, wie eine interne Studie der Caritas zeigt, von Kommune zu Kommune schwankt. Deshalb wäre es wichtig, endlich klare Ziele zu stecken, wohin sich das Ganze entwickeln soll. Der Caritas als größtem Träger kommt das Verdienst zu, diese Fragen zu stellen, die Antworten kann und darf sie aber nicht allein geben. Erziehungs- und Bildungsfragen gehen alle etwas an.
Das sind drei Beispiele dafür, wie es der CSV doch gelingt, in konfliktträchtigen Zukunftsfragen zumindest Richtungen vorzugeben – die allerdings mehr Probleme bringen als sie lösen. Dennoch haben die anderen Parteien anderthalb Jahre vor den Wahlen dem offenbar kaum etwas entgegenzusetzen. Die LSAP hat sich bisher weder zur geplanten Umstrukturierung des Heimsektors noch zur konfliktösen Arbeitsteilung zwischen Maisons relais und (Ganztags-)Schulen geäußert. Angesichts hypernervöser Lehrergewerkschaften, die mit Streik drohen, sollte die Regierung im Zuge der Reform des Grundschulgesetzes nicht auch die Gehälter erhöhen, ist kaum zu erwarten, dass die Unterrichtsministerin das heiße Eisen mehr Ganztagsschulen vor 2009 noch anpacken wird.
Die Opposition ist zu sehr mit sich beschäftigt, um Gegengewicht sein. Déi Gréng, bei unbeliebten Sozialthemen wie Jugendschutz, Erziehung und Betreuung früher nie um eine Stellungnahme verlegen, glänzen ebenfalls durch Abwesenheit. Dass ihr Abgeordneter Claude Adam das Heim-Dossier neuerdings an seine durch Gemeindepolitik stark beanspruchte Parteikollegen Viviane Loschetter abgetreten hat, spricht auch nicht unbedingt dafür, dass sich das sobald ändern wird. Die DP muss erst den internen Richtungsstreit über ihre zukünftige Bildungspolitik beilegen, von ihr ebenfalls keine großen Impulse zu erwarten, zumal sich die Liberalen für derartige Themen in der Vergangenheit nie sonderlich interessiert haben. Sodass zu fragen ist, wer der christlich-sozialen Dominanz momentan ernsthaft Paroli bieten kann und ob es nicht vielmehr die Opposition ist, die wichtige Zukunftsfragen verschläft.