„Atmen, Papa!“, versucht Karin Lind (wunderbare Sylvana Krappatsch, zwischen Kraft, Wut und Angst) ihren Vater am Telefon zu beruhigen. Er (André Jung) liegt nach einem Zusammenbruch in der Klinik, angeschlossen an Geräte, die ihn am Leben halten. „Papa, weinst Du? … Hey, wir sind stark!“, ermutigt sie ihn. Dabei ist niemand stark in dieser Situation: Der Vater, der berühmte Regisseur Thomas Lind, liegt im Sterben; die Tochter, selbst Regisseurin und Schriftstellerin, soll die Inszenierung von Shakespeares King Lear, die ihr Vater noch begonnen hat, zu Ende führen. Selbstzweifel und eine unaufgearbeitete Familiengeschichte von Gewalt und Missbrauch treiben sie um. „Ich will mehr erben als Schulden und ein paar Traumata“, schreit sie ihre abwesende Schwester an, als der Vater wieder einmal versucht, über Telefon den Familienbesitz zu verhökern.
Diese Rahmenhandlung, die Regisseur Falk Richter zu seiner „Überschreibung“ von Shakespeares Königsdrama King Lear (1606) am Schauspiel Stuttgart geschrieben hat, erlaubt es ihm, den Stoff als Stück im Stück radikal zu entstauben und unzählige Referenzen zu aktuellen Fragen herzustellen: Was erben wir von unseren Eltern, zum Beispiel. Einen kaputten Planeten? Was sind Kinder ihren Vätern schuldig, wenn sie in der ersten Reihe stehen und Entscheidungen treffen müssen? Braucht es einen teuren Hofstaat von an die hundert Mann oder genügt auch die Hälfte, ein Viertel? Im Jahr des Thronwechsels in Luxemburg hallen die Fragen in Shakespeares Text besonders nach.
König Lear ist alt und müde und will das Königreich an seine Kinder weitergeben. Doch bevor er sein Land aufteilt und die Krone abgibt, will er von seinen drei Töchtern Goneril (Katharina Hauter), Regan (Josephine Köhler) und Cordelia (Mina Pecik) wissen, wie sehr sie ihn lieben und welche der drei ihn am meisten liebt. Während die beiden Älteren sich in Lobhudeleien übertreffen, sagt Cordelia: „nichts“ – sie wolle ihren Vater lieben, wie es sich geziemt, nicht mehr, nicht weniger. Lear ist entrüstet, schickt die Tochter weg, verheiratet sie nach Frankreich, bevor seine beiden anderen Töchter ihn verstoßen, ihn nackt aus dem Schloss in eine stürmische Nacht jagen. Dort erlebt er, in den Fetzen seines Nachtkleides, eine existentielle Erfahrung – gar eine Läuterung.
Zu Beginn steht Lear ganz in Weiß am Fuße eines schwarzen Denkmals seiner selbst, umgeben von schwarzen Fahnen im Schein von Neonlichtern. Er ist ein mächtiger König, im Zenit seiner Macht. Am Ende ist er nur mehr ein Häufchen Elend, in zerfetzten Kleidern, dement, schwach, verarmt. André Jung, ohne Zweifel Luxemburgs bester lebender Schauspieler, gelingt es, seinem Lear die Tiefe zu geben, die dessen Leiden fassbar, seine Desorientierung menschlich macht. Er spielt diese Wahnsinnsrolle zum zweiten Mal, zwölf Jahre nachdem ihn Johann Simons an den Münchner Kammerspielen als Bauer (mit echten Schweinen auf der Bühne – das Stück wurde damals als Gast-
spiel am Grand Théâtre gezeigt) inszenierte. Wolfgang Menardis drehendes Bühnenbild dekonstruiert sich von Szene zu Szene in seine Einzelteile, bis nur noch eine kahle Bühne übrig bleibt, übersät von schwarzen Plastikschädeln.
Dazwischen erleben wir Täuschungen und Verrat, Familiengeschichten und Erbschaftsstreit, Narrenspiele und viel Humor (Karin Lind organisiert zum Beispiel ein Casting mit den angesagtesten Comedians, um den Narren zu besetzen). Falk Richters Version des Stoffes ist manchmal hanebüchen (die Gen-Z-Themen wie die „Liste des Verzichts“ oder die „feministische Lektüre“ eines 400 Jahre alten Textes, in dem keine Mütter vorkommen), ästhetisch herausfordernd (mit Musik von Depeche Mode, Bob Dylan und den Doors; der überbordende Sturm aus Wind und Blättern) und immer hochpolitisch: Die Blinden, die Narren führen (spontaner Applaus des Publikums, mit Blick auf Trump und die USA) oder der Schlusssatz, den er Edgar in den Mund legt, dass nach dem Bürgerkrieg, dem großen Gemetzel, bei dem alle sterben, eine neue Welt entstehen wird, in der „radikal gelebte Ehrlichkeit“ herrschen muss.