Pflichtlektüre, Kanonliteratur und Schauspielprominenz – drei Elemente, die die Kassen klingeln lassen. Ersteres lockt die Jugend klassenweise ins Theaterhaus, Letztere sorgt für das restliche Publikum. So präsentiert das Grand Théâtre am 21. Oktober die erste von insgesamt zwei Vorstellungen des erfolgreichen Dramas Les Justes von Albert Camus, mit Star-Schauspielerin Emmanuelle Béart in der Rolle der Dora. Als Regisseur führt Stanislas Nordey das Publikum in das ethische Grenzgebiet zwischen Freiheit und Kindsmord, Entschluss und Zögern.
Camus’ zu Recht gefeiertes und der Gattung des Ideendramas zugehöriges Bühnenwerk zeichnet die wenigen Tage vor und nach dem Entschluss einer revolutionären Zelle nach, deren Bestreben es ist, den Despoten in Gestalt des Großherzogs Sergej auf der Fahrt zum Theater zu töten. Als sich herausstellt, dass sich auch Kinder in der Kutsche befinden, wagt es Kaljaljev nicht, die Bombe zu werfen. Er, der „Poet“, wie sie ihn nennen, gerät daraufhin mit Stepan in einen Konflikt: Wer Kinder töte, erschaffe keine schöne neue Welt. Stepan hingegen steht für den Zweck, der alle Mittel heiligt, die Zerstörung des Despotismus. Im weiteren Verlauf wird die Ontologie der Freiheit zur Disposition gestellt: Wird hier ein Mensch getötet – oder ein System? Ist es Mord oder Freiheitskampf?
Die Sprengkraft der Vorlage gibt Nordey in beeindruckend klaren, geometrischen Linien wieder. Die feinkantige, bis zur Decke reichende goldene Wand versteckt eine Mauer in Grau. Beide sind mit der vorderen Hauptbühne durch einen Steg verbunden. Sämtliche Linien der Kulisse fließen parallel oder quer zueinander. Das Schauspielensemble formiert sich mal in einer Linie dem Publikum zugewandt, mal entschlossen in zugespitztem Winkel, mal in Gestalt eines Quadrats.
Nicht nur der mit existenzialistischen Grundfragen beladene Text wird von den Darstellern Vincent Dissez, Raoul Fernandez oder Laurent Sauvage einer klaren, abgehackten Geometrie der Syntax unterworfen. Selbst die vereinzelten Schreie, dann nämlich, wenn der emotionale Druck des Moments es gebietet, wirken kalkuliert und leidenschaftslos ausgestoßen.
Zu bewerten, ob diese Interpretation gelungen ist, fällt schwer. Nachvollziehbar mag sie sein. Nordey verfremdet die Sprache der Revolution zu einem konstruierten Pamphlet, und die Dialoge beschränken sich auf weitestgehend gefühlskalte Maschinen, die ihre Stellungnahmen generieren. Auch Revoluzzer, so scheint Nordey Camus neu zu lesen, sind nur berechnend, ohne Feuer. Ob dies das Anliegen des Philosophen gewesen ist? Wohl kaum! Mit derselben Lesart stellt sich jedoch eine weitere fundamentale Frage: Muss der Rezipient die Position des Autors überhaupt berücksichtigen?
Der vierte Akt reiht sich in seiner Offensichtlichkeit fugenlos in die vorangehenden und den Folgeakt ein. Auch hier wird die Sprache vor allem vom Vorsitzenden des Polizeidepartements Skouratov als politische Gestik und verbale Inkontinenz parodiert. Auch die Stimmen im Dialog zwischen der Großfürstin und Kaljaljev, tontechnisch verzerrt, unterliegen dem Prinzip der Verfremdung. Sprache verliert ihre Menschlichkeit. Die klaren Linien der Inszenierung, die das Publikum in der ersten Hälfte zur Kenntnis genommen hat, gehen hier jedoch verloren. Wo die vorherigen Szenen wenn auch nicht gänzlich gelungen, so doch immerhin nachvollziehbar gewesen sind, verliert sich die Regie nun in einem kabarettistischen Wirrwarr, der Camus’ grundfundamentaler Diskussion um Freiheit und das, was gerecht ist, keineswegs gerecht wird. Sie zieht die Zeitlosigkeit und Aktualität dieses Meisterwerks schlichtweg ins Lächerliche. Der Auftritt des Häftlings und Henkers Foka wird zum Desaster, das Les Justes in Teilen zur Provinzposse verkommen lässt.
Dass Starschauspielerin Emmanuelle Béart am Ende ihres Monologs im fünften Akt, in dem sie ihre Bereitschaft zur Revolution verkündet, einen der wenigen feurigen Momente des Abends liefert, ist in dieser Rezension vielleicht zu sehr untergegangen. Der gleiche Umstand untermauert jedoch zwei Feststellungen: Die Darstellerin, die bereits an der Seite von Tom Cruise in Mission impossible die Massen an sich zog, vermag es, sich bescheiden in das gesamte Ensemble einzufügen. Zudem wird damit noch einmal deutlich, auf welch markante und zugleich zweifelhafte Weise die Vorlage vom Diktat des Regietheaters erdrückt wird, ja, ihm dem Ende hin zum Opfer fällt.