Es ist heiß, feucht und stickig an diesem Abend in den Ateliers des TNL. Das Publikum fächert sich mit Broschüren die letzten Reste der Frischluft zu, die das Hirn benötigt, um einer dramatischen Arbeit folgen zu können, die sich nicht der Lakonie bedient, sondern in Bildern und Skizzen spricht. Volles Haus trotz unerträglicher Hitze an diesem Abend: Immerhin, es steht die Premiere von Dow Jones auf dem Programm. Zum Abschluss der Theatersaison 2009/2010 lockt das Nationaltheater mit einem jener Schlagworte an die Avenue du X Septembre, die in den letzten „’t ass Kris“-Jahren als Nomenklatur des kapitalistischen Systems diskreditiert worden sind. Der Titel lockt, und mit Regisseurin Anne Simon sowie dem Autor Nico Helminger zeichnen erfahrene Künstler für die Produktion verantwortlich. Ein Bühnenwerk zum kapitalistischen Scheitern also, von erfahrenen Pro-tagonisten der Luxemburger Szene zur (Theater-)Sprache gebracht?
Sieben sozial Gestrandete finden sich zusammen in einer Art Strandhaus, Verlierer unterschiedlicher Bereiche unserer Leistungsgesellschaft. Sascha kontrolliert die Lage. Mit dem Versprechen, sie für einen Film zu casten, fertigt er Probeaufnahmen an: vom Portugiesen Rod, den sie Bacalhau nennen, von Chris, der trotz Mehl-Allergie eigentlich Bäcker werden wollte, oder von Lynn und Tania, Freundinnen aus dem Frauenhaus. Eigentlich möchte Sascha mit diesen Aufnahmen nicht mehr als ihre Fähigkeit testen, Zeitungsabonnements an Ahnungslose zu verkaufen. Sa-schas Truppe entpuppt sich ganz einfach als Drückerkolonne. Konkurrenzdruck, Misstrauen und Aggressionen stauen sich zu einem Überdruck an, der sich mit Perspektivlosigkeit zum Sprengstoff mischt.
Die inhaltliche Verbindung von Titel und Drama ist völlig an den Haaren herbeigezogen. Der Titel lautet Dow Jones, weil Sascha den Nachnamen Jones trägt. Deshalb Dow Jones. Rod: „Sascha ist dow. Oder dow-dow.“ Darauf Dylan: „Dow-dow?“ Daraufhin Rod: „Je nachdem.“
Sascha diktiert, kontrolliert, terrorisiert. Er hält seine Gestrandeten gefangen. Sie hängen an ihm, sind von ihm abhängig, ähnlich dem Spekulanten, der auf die Index-Kurve stiert. Geschenkt. Doch muss man sich solche dünne Metaphern antun, bei gefühlten 40 Grad? Muss man darüber hinaus das unerträgliche Luxemburgisch-Deutsch von Nilton Martins tatsächlich ertragen? Wer auf diese Weise ohne Absicht spricht, ist eine Fehlbesetzung. Falls Kalkül dahinter steckt, verfehlt die platte Satire ihr Ziel.
Soweit sind die Überlegungen zu Dow Jones jedoch zu kurz gegriffen. Der Titel ist ein Fehlgriff, aber die Inszenierung hat auf einigen Ebenen Poten-zial. Ihre recht wechselhafte Rhythmik liefert intensive Einblicke in eine Welt, die Regisseurin Anne Simon bereits mit Kult überaus unkonventionell in bühnenreife Bilder goss. Gemeinsam mit Helminger seziert sie eine Nachwuchsgesellschaft, die sich in ihrer Oberflächlichkeit Träumen hingibt, die nur noch aus Zeitschriften stammen, deren Verwirklichung sich dem Leser auf Hochglanzpapier anbiedert und in der Realität dieser jungen Menschen im Morast der Selbstgefälligkeit verendet. Hier will jeder ein Star, hier will jeder ein Sportwagenbesitzer sein. Hier ist jeder Verlierer. Nur manchmal bremst die Inszenierung ab, findet sie Ruhe in herbeigesehnten, melancholischen Monologen, in intimen Dialogen über das Hätte-Wäre-Wenn, ja die eigene Unzulänglichkeit.
Die Bühnengestaltung von Anouk Schiltz liefert dazu Interpretationsspielraum. Das Haus setzt sich aus Dutzenden von grellfarbenen Luftmatratzen zusammen. Stehen Sie für die Spaßgesellschaft, die Träume platzen lässt, weil Träume ohne Inhalt zur Nullnummer verkommen? Oder stehen sie für jene Momente, in denen die Lebensangst den Menschen in die innere Einkehr, in die Schwerelosigkeit zwingt, ganz so wie das Gleiten auf stillem Wasser, abseits absurder Abonnements, abseits des tiefen Falls?
Unter Hinzunahme atmosphärisch dichter Musikmischungen erweckt das Drama den Eindruck, dass auch der Verlierer, für den es keine Kamera, keine Bühne gibt, einer Perspektive bedarf. Helmingers Vorlage lässt einen Spannungsbogen vermissen. Die Schnelligkeit einiger Szenenskizzen verhindert zu oft Empathie. Sicherlich ist Dow Jones kein großer Wurf. Was dem Publikum hier jedoch vor Augen geführt wird, ist die Schwere des Seins auf der Schattenseite. Gegen die klimatische Schwere hätte man sich einen Sprung in den Pool gönnen können. Den Hinweis auf die soziale Schwere des sozialen Absturzes nimmt so mancher Besucher wohl als Denkanstoß mit in die Nacht: „Wir liegen alle in der Gosse, doch einige von uns blicken auf zu den Sternen.“