Was man alles mit einem Busen anstellen kann? Nun ja, er lässt sich völlig bedecken oder im Ausschnitt erblicken, der seinerseits an Dirndl erinnert oder diese glatt in den Schatten stellt. Man kann ihn heben, Mann kann ihn heben. Zusammendrücken. Die Nase an ihn pressen, in ihn graben. Ihn wie einen Götzen mit gespreizter Hand umfassen. Er lässt sich anbeten, anstarren, streicheln. Ja, er hält sogar als Versteck für Klunker her. Und bisweilen heißt er die männliche Hand willkommen, die den Schmuck vor dem Dunkel zwischen den Brüsten rettet.
Möglicherweise wäre diese Rezen-sion zu Carl Sternheims expressionistischem bürgerlichen Lustspiel Die Kassette aus dem Jahre 1912, von Marion Poppenborg im Théâtre des Capucins in Szene gesetzt, ein gefundenes Fressen für Studien feministischer Rezeptionskritik, doch die Premiere am 7. Oktober überbordet nun einmal an frivoler Gestik. Der aus Leipzig stammende Sohn eines jüdischen Bankiers zählte die halbe Riege expressionistischer Vertreter zu seinen Freunden. Diese Bewegung lebte vom Dualismus des Schräg-Grotesken und des Apokalyptisch-Melancholischen. Die Kassette zählt zweifellos zu Ersterem und entblößt das wilhelminische Bürgertum in dessen Beziehung zu Geld und Sexualität.
Der aus den Flitterwochen mit seiner zweiten Ehefrau, seinem „Püppchen“ Fanny, zurückkehrende Lehrer Heinrich Krull hofft auf das Erbe seines Tantchens, der überaus strengen und fordernden Matriarchin Elsbeth Treu. Das Erbe, Staatsanleihen aus bayrischen Forstbeständen mit vierprozentigem Zins, wird dem unfreiwillig komischen, weil in seinem autoritären Gehabe unbeholfenen Krull späterhin in Aussicht gestellt. Doch auch der Fotograf Alfons Seidenschnur giert nach der Kassette, hofft auf die 140 000 Mark und liebäugelt zweckgebunden mit Krulls Tochter aus erster Ehe, Lydia. Die Handlung ist keineswegs revolutionär. Wie die Figuren jedoch unter der Last dieser ihnen vorgelegten Beute psychisch abstürzen, offenbart sich an Fannys zunehmenden Gewaltausbrüchen, Heinrichs wachsender Cholerik und sozialem Ausschluss sowie der dekadent-stupiden Schürzenjagd des Don Juan Seidenschnur.
Das Bühnenbild von Christoph Rasche ist mit halterlosen Türen in schräger Lage bestückt. Sie erinnern an Grabsteine und daran, dass mit jeder geöffneten Tür, jedem Betreten des anderen Raums zugleich die eigene Dekadenz beschleunigt wird. Schuld daran ist mitnichten das Geld. Schuld daran ist das Unvermögen, Trieb und Moralvorstellungen, Es und Über-Ich in Einklang zu bringen.
In der Tat liefert Sternheim in seiner Vorlage endlosen Klamauk und schreckt auch vor plattem Schwank nicht zurück. Poppenborg drückt aber in ihrer an Frivolität und Cholerik, Rasanz und Groteske gesättigten Inszenierung so sehr auf die Tube, dass das Komische beschnitten und dem Schenkelklopfer Raum geboten wird. Ist das noch mit rein expressionistischer Übertreibung zur rechtfertigen? Es wird geschrien, masturbiert, aus Schmerzen oder vor Lust gestöhnt, Brüste werden begrapscht, Schlagadern drohen zu platzen. Ein inszenatorischer Orgasmus; stets unter dem wachsamen Auge des überdimensionalen gutbürgerlichen Wandporträts dieser so ach so anständigen Familie. Dieser Rezension Prüderie und tierischen Ernst vorzuwerfen, würde am Ziel vorbeischießen. Denn Sinnlichkeit und menschliche Emotionen sind Motoren und Motive dramatischer Kunst, klamaukhafte Lüsternheit und Hektik in Massen ein Verdruss.
Nur scheinbar widerspricht dieser Beobachtung der Umstand, dass das Schauspielensemble in diesem Theater eine Glanzleistung vollbringt. Wenn die Vision der Regisseurin auch polarisiert – die Schauspieler wissen ihre Richtung präzise zu gestalten. Fred Frenay als Krull ist in seiner Schusseligkeit und seinem explodierenden Inneren hinreißend, Lydia in ihrer bewusst überzogenen Naivität urkomisch, Jules Werner in seinem Testosteronbad voller Spielfreude. Bis in die Nebenrollen (erneut Eugénie Anselin!) überzeugt das Ensemble, das nur in den ersten Minuten einer Aufwärmphase bedurfte.
Diese Darstellung erlaubt die verdiente Hervorhebung der eigentlichen Stärke in Sternheims Stück: die Sprachkritik. Man nehme die Bloßstellung bürgerlicher Bildungssprache aus dem Munde Krulls: „Mein Brief ist Brevier donnernden Protestes. Im Ausdruck schneidig bis zur Grenze der Beleidigung.“ „Barocker Gedanke! Sidoniens übervoll.“ Man nehme die Parodie auf bürgerliche Gesetzestexte zur Forstwirtschaft. Stets wirken diese Wortschwalle wie Farbtöpfe, mit denen die seelische Verkümmerung übertüncht werden soll.
Sternheims Bühnenarbeit ist kein Musterbeispiel dramatischer Subtilität. Seine bisweilen zwar zu sehr aufgetragene, aber gekonnte Sprachkritik und die psychologische Entwicklung der Figuren wirken jedoch vom Gegrapsche, Gefummele und Geschrei der Inszenierung in den Schatten gestellt.