Techno-Musik und Roboter, Animationsfilme und Sake-Partys bis in den frühen Morgen: Eine Woche lang konnte man sich im österreichischen Linz wie in Japan fühlen. Für die Kreativen von Canon, Sony & Co. ist die Ars Electronica wohl Pflicht. Jedenfalls fallen bunte Kimonos im Gedränge der Nerds auf, während die vereinzelten Krawatten einheimischer Politiker hilflos untergehen. Das älteste und größte Festival für digitale Kultur bot so viel Programm wie noch nie: über 500 Konzerte, Ausstellungen, Konferenzen und Performances von mehr als 1 400 Künstlern, Wissenschaftlern, Technikern und Freaks aus aller Welt.
Die Events der 40. Ars Electronica waren über ganz Linz verstreut, vor allem aber in einem aufgelassenen Post-Verteilerzentrum beim Bahnhof: riesige Hallen, haushohe Paketrutschen, im Keller kilometerlange Gänge eines Atombunkers. Zum Oberthema Out of the Box – Die Midlife-Crisis der Digitalen Revolution wurden in diesem düsteren Labyrinth spektakuläre Installationen gezeigt. Diskutiert wurde auch über einen „europäischen digitalen Humanismus“: Gibt es Alternativen zu IT-Konzernen aus den USA und Überwachungstechnik aus China? Die Designer Bjørn Karmann und Tore Knudsen präsentierten „Alias“, eine Datenschutz-Kappe, die Sprachassistenten wie Alexa oder Siri mit einem Rauschen stören kann. Das Projekt The Hidden Life of an Amazon User von Joana Moll klärte auf, dass beim Online-Kauf eines einzigen Buches vom Kunden über 8 000 Seiten Daten abgegriffen werden.
Oft wurden Tech und Bio kombiniert, etwa Pilze tätowiert oder an nahrhaftem Beton für Fische getüftelt. Viele Künstler suchen den Dialog mit der Natur und hantieren mit Übersetzungsgeräten für die Sprache von Vögeln, Fledermäusen oder Fliegen. One Tree ID – How To Become A Tree For Another Tree von Agnes Meyer-Brandis ist ein Parfüm, das Bäume ansprechen soll. Eine japanische Gruppe sucht dagegen einen Duft, den männliche Haifische als sexy empfinden. Mit Mikroben arbeitet auch die Installation [ir]reverent: Miracles on Demand von Adam Brown: Ein Bio-Inkubator, der wie eine Monstranz aussieht, produziert eine Flüssigkeit, die Blut ähnelt.
Zum Wettbewerb der Ars Electronica wurden diesmal 3 256 Projekte aus 82 Ländern eingereicht. In der Kategorie „Digital Musics & Sound Art“ ging die Goldene Nica erstmals an einen Österreicher, an Peter Kutin für seine Klangskulptur Torso #1, die an eine Windmühle erinnert. Die Jury für die Kategorie „Computer Animation“ wollte nicht brillante Technik sehen, sondern Ideen und Visionen. Das Rennen machte da Manic VR der Kanadierin Kalina Bertin, eine Expedition in die Lebenswelt von Menschen mit bipolarer Störung. Der erste Preis für die neue Kategorie „Artificial Intelligence & Life Art“ ging an die Installation Labor des US-Künstlers Paul Vanouse: Bakterien in gläsernen Bioreaktoren liefern für ein T-Shirt einen Schweiß-Geruch, der „an Arbeit erinnert“.
Die Zahl der Besucher wird auf über 100 000 geschätzt. Das „Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft“, organisatorisch ein Unternehmen der Stadt Linz, expandiert unermüdlich: Zum Prix Ars Electronica und der Klangwolke, einem Open-Air-Konzert an der Donau, kommen mittlerweile eigene Festivals zu Animation und zu Musik, ein Gallery Space für Sammler und Kuratoren, Kooperationen mit Museen und 57 Universitäten rund um den Globus, ein permanentes Ars Electronica Center, das Forschungs- und Entwicklungszentrum Futurelab, unter dem Titel „European ARTifical Intelligence Lab“ ein neues Residency-Programm für Künstler, dazu eigene Filialen in Japan, USA und neuerdings auch Australien.
Den Aufstieg zur weltweit beachteten „Kultur-, Bildungs- und Forschungs-Plattform“ erklärt ihr Gründer, der ORF-Journalist Hannes Leopoldseder, ganz einfach: „Wir hatten 1979 die Idee. Und die schmutzige Industriestadt Linz suchte eine Zukunft nach Eisen und Stahl.“ Weniger charmant erinnert sich Peter Weibel, ehemals Leiter der Ars Electronica und heute des ZKM in Karlsruhe: „Eigentlich geht Medientheorie auf den ‚Wiener Kreis‘ zurück. Aber Wien wollte nach dem Krieg die Juden nicht zurück haben, Salzburg war zu reaktionär, und Graz hat es verschlafen.“ So konnte sich Linz in aller Ruhe auf die Computer-Welt spezialisieren. Bis das neumodische Kybernetik- und Mikroelektronik-Zeug als „Kultur“ akzeptiert wurde, dauerte es allerdings lange. Der für die erste Klangwolke angefragte Dirigent Eugen Jochum hatte sich noch strikt geweigert, Musik von Bruckner derart in der Öffentlichkeit zu profanieren.
Zum Jubiläum erinnerte eine Ausstellung im Lentos-Kunstmuseum an bisherige Höhepunkte der Ars Electronica, etwa ein „Mach-mit-Konzert“, bei dem lange vor Social Media im Jahr 1980 alle Bürger ihr Radio einschalten und ins Fenster stellen sollten. Besonders in Erinnerung geblieben ist auch ein großes gemeinsames Computerspiel, ein übers Internet gepflegter und gegossener Telegarten und eine im Fernsehen live gefakte Hunde-Sprengung. Und das legendäre Spermien-Rennen: Männer konnten auf dem Hauptplatz Samenproben abgeben, testen lassen und es damit je nach Qualität zum „Tagessieger“ bringen.
Immer wieder machten Gewinner der Goldenen Nica später Furore, zum Beispiel Wikipedia und Wikileaks. Für die Zukunft setzt Gerfried Stocker, der künstlerische Leiter der Ars Electronica, auf das Thema „Künstliche Intelligenz“. Das Ars Electronica Center wurde völlig neu gestaltet, seine Dauerausstellung ist nun ganz auf KI fokussiert. Neu ist auch die Festival-Kategorie „AI meets Music“, die Hermann Nitsch mit einem Orgelkonzert eröffnete. „Bislang hat die Digitalisierung bestehende Abläufe unserer industrialisierten Welt revolutioniert“, erläutert Stocker: „Aber jetzt kommt etwas völlig anderes. Die Verbindung von KI-Systemen und Biotechnologie wird sich in den nächsten Jahren massiv auswirken.“