Therapie ohne Diagnose Nach dem Kampf gegen die Folgen der Finanzkrise unter der CSV/LSAP-Koalition und nach der wirtschaftlichen Konsolidierung durch die DP/LSAP/Grüne-Koalition soll die nun beginnende Legislaturperiode dazu dienen, die Schere zwischen Arm und Reich ein wenig zu schließen. Das hatte zumindest LSAP-Spitzenkandidat Etienne Schneider auf dem Programmkongress seiner Partei im Juli versprochen. Und auch andere Parteien hatten es im Wahlkampf für bedenklich gehalten, dass die sozialen Unterschiede zunähmen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohten. Doch aus den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen ist kaum etwas von diesen Sorgen zu hören.
Immerhin hatte das Statec sofort nach den Wahlen mit seinem Rapport travail et cohésion sociale (d’Land, 19.10.2018) nicht nur gemeldet, wie groß die Einkommensunterschiede in einem Land seien, das stets als harmonische Volksfamilie dargestellt wurde: „On constate par ailleurs un écart important entre les extrêmes: les 10% des individus ayant les niveaux de vie les plus bas ne possèdent que 3% de la masse totale des revenus des ménages, contre 24% pour les 10% des individus les plus aisés“ (S. 113). Das Statec hatte auch darauf hingewiesen, dass die Einkommensunterschiede größer werden: „Sur la période 2004-2017, l’évolution du coefficient de Gini suit plutôt une tendance haussière” (S. 113). Der Gini-Koeffizient, der die Größe der Einkommensunterschiede auf einer Skala von 0,00 bis 1,00 misst, stieg von 0,25 im Jahr 1996 auf 0,31 vergangenes Jahr.
Das Statec beschreibt, wie sich die Einkünfte der ärmsten und der reichsten Zehntel der Einkommensbezieher seit der Krise 2008 entgegengesetzt entwickelten: „On note une tendance baissière très nette des déciles des plus pauvres. À l’opposé, les déciles des plus favorisés ont crû d’abord fortement en début de crise, pour après connaître une variation plus faible proche de celle d’avant la crise. […] Sur la période 2005-2017, les plus défavorisés ont vu leur pouvoir d’achat baisser à l’inverse des plus favorisés“ (S. 108).
Ähnlich stand es im Wahlprogramm der LSAP: „Trotz hoher Wachstumsraten und steigender Beschäftigung öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter.“ Deshalb sei 2017 eine Steuerreform erfolgt. „Aus Sicht der Sozialisten war dies ein erster wichtiger Schritt hin zu einer gerechteren Verteilung der Einkommen, dem weitere folgen müssen“ (S. 65). Die Grünen stellten in ihrem Wahlprogramm fest: „Eine grüne Steuerpolitik muss die negativen wie die positiven Auswirkungen des Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums berücksichtigen und dazu beitragen, nicht nachhaltigen Konsum zu reduzieren und die Einkommens- und Vermögensverteilung gerechter zu gestalten“ (S. 78).
Allerdings benutzen alle Beteiligten Strategien, um es im Kampf gegen die wachsenden sozialen Unterschiede weitgehend bei Absichtserklärungen zu belassen. Sie versprechen, die Entwicklung dieser Unterschiede aufzuhalten oder gar umzukehren, ohne die Ursachen dieser Entwicklung kennen zu wollen. Weder das Statec in seinem Bericht über die Arbeit und den sozialen Zusammenhalt, noch die politischen Parteien bemühen sich um Erklärungen für den von ihnen beschriebenen oder beanstandeten Anstieg der Ungleichheit. Dass sich die Einkommensschere in den vergangenen Jahren öffnete, wird als eine unerklärliche Naturgewalt hingenommen, deren Folgen sich lediglich durch Sozialtransfers abschwächen lassen.
Dabei bieten Wirtschaftswissenschaftler in aller Welt seit Jahren Erklärungsversuche an: Etwa die in der Europäischen Union durchgesetzte Liberalisierung der Kapital- und Arbeitsmärkte, die den Konkurrenzkampf aller gegen alle verschärfe; technischen Veränderungen, die in einer ersten Phase die Einkommensunterschiede vergrößerten und die Nachfrage nach höher Qualifizierten und damit auch ihr Lohnniveau steigere; Kapitaleinkünfte, die laut Thomas Piketty schneller als die Gesamtwirtschaft wüchsen; die Konkurrenz von Niedriglohnländern, die vor allem Industriearbeiter spürten; die zu niedrige Produktivität gering qualifizierter Arbeiter; die Schwächung der Gewerkschaften und des Tarifwesens; die Renten abwerfenden Urheberrechte auf technischen Neuerungen...
Stattdessen wird auf Erklärungsversuche verzichtet, damit die Diskussion über die sekundäre Umverteilung von Einkünften die Frage nach der primären Verteilung von Einkünften vergessen lässt. „Ein weiterer Schwerpunkt für die DP ist die Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung. Wir haben in der laufenden Legislaturperiode viele Maßnahmen getroffen, um die Lage der Menschen mit geringem Einkommen deutlich zu verbessern“, hieß es im Wahlprogramm der DP, die stolz Teuerungszulage, kostenlose Schulbücher, RMG-Reform, Mietzuschuss, Sozialwohnungen und sogar die „Steuerfreiheit für 50% der Nettomieteinkünfte aus der Immobilienvermietung an zugelassene Organisationen“ aufzählt (S. 39-40).
Der Unterschied zwischen Verteilung und Umverteilung lässt sich aus einer Bemerkung im Rapport Travail et cohésion sociale des Statec über den Ungleichheits-Koeffizienten erahnen: „Plus généralement, en calculant le coefficient de Gini avant et après transferts sociaux, on obtient une valeur de 0.31 si l’on prend en compte tous les transferts sociaux (pensions de retraite incluses). Si l’on ne prend pas en compte les transferts sociaux (à l’exception des pensions de retraite), le coefficient augmente à 0.36. Si l’on exclut aussi les pensions, la valeur est de 0.50“ (S. 116).
So erklärt sich auch die Wut verschiedener Parteien und Lobbys auf die LSAP, die als einzige der größeren Parteien in ihrem Wahlprogramm die Frage nach der primären Einkommensverteilung durchscheinen ließ: „Deshalb befürwortet die LSAP eine Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich, auf ein gesetzlich festgelegtes Maximum von 38 Stunden pro Woche. Im Sinne einer Angleichung des Privatsektors an den öffentlichen Sektor wird der Jahresurlaub im Privatsektor während einer Fünf-Jahresperiode jährlich um einen Tag verlängert“ (S. 39). Die versprochene Erhöhung des Netto-Mindestlohns sollte dagegen weitgehend aus der Staatskasse bestritten, das heißt zwischen Lohnsteuerpflichtigen umverteilt werden.
Working poor Ist aber erst die Aufmerksamkeit von der Verteilung auf die Umverteilung abgelenkt, ist es nicht mehr weit bis zur Beschränkung auf die Armutsbekämpfung. Durch die Konzentration auf die Armen verschwinden die Reichen und somit auch die sozialen Unterschiede aus dem Blickfeld der Politiker und Statistiker. Trotzdem sorgte das Statec für Empörung bei verschiedenen Parteien und Lobbys, als es in seinem Rapport travail et cohésion sociale vorrechnete: „En 2017, le taux de risque de pauvreté calculé avant transferts sociaux atteint 47% de la population. Si l’on intègre les pensions de vieillesse et de veuvage dans le calcul du revenu, ce taux chute à 29%. Finalement, si l’on prend en compte la totalité des transferts, il descend à 18.7%. Si le taux de pauvreté avant transferts a progressé de 9 points depuis 2003, celui calculé après transferts de seulement 7 points” (S. 133). Und das Statec setzte noch eins drauf, als es ein Referenzbudget aufstellte, das nötig sei, um schlicht zu leben: „Il apparaît que pour la plupart des cas de figure, le budget de reference est supérieur au seuil de risque de pauvreté. En d’autres termes, les personnes ou ménages vivant avec un revenu à hauteur du seuil de risque de pauvreté ne peuvent pas mener une vie décente au Luxembourg“ (S. 171).
So wie die Frage nach der Zunahme der sozialen Unterschiede von der Verteilung zur Umverteilung abrutscht und sich dann auf die Armutbekämpfung konzentriert, geht es auch der Armutsbekämpfung: Zwar geht das Statec ebenfalls davon aus, dass es in der Ausdrucksweise der europäischen Sozialbürokratie keine Armen mehr gibt, sondern nur noch „Armutsgefährdete“, doch identifiziert es sie im Rapport travail et cohésion sociale noch als Angehörige sozialer Klassen, vor allem der Arbeiter, die seit dem arbeitsrechtlichen Einheitsstatut auch nicht mehr so heißen: „Les personnes en emplois manuels sont le plus en risque de pauvreté. Ils représentent plus de la moitié des pauvres en activité alors qu’ils ne sont que le tiers de la population totale. La situation des employés est moins grave, mais ils ont aussi un risque plus élevé d’être pauvres” (S. 124).
Anastase Tchicaya und Nathalie Lorentz stellten in Disparités sociales de mortalité au Luxembourg (Ceps, 2011) fest, dass dieser Klassenunterschied nicht einmal vor dem Tod haltmacht: „Par exemple chez les hommes, les personnes appartenant au régime professionnel des ouvriers décèdent plus que celles appartenant au régime professionnel des employés privés, pour les causes suivantes : maladies de l’appareil circulatoire, maladies du système respiratoire et du système digestif“ (S. 24).
Deshalb haben die meisten politischen Parteien lieber die alleinerziehenden Mütter zu den letzten Armutsgefährdeten erklärt. Die DP versprach in ihrem Wahlprogramm: „Das Armutsrisiko – zumal von Alleinerziehenden mit Kindern – verlangte einen Paradigmenwechsel in der Familienpolitik, der es Eltern ermöglicht, Beruf und Familienleben besser zu vereinbaren“ (S. 37). Ähnlich wollten die Grünen in ihrem Wahlprogramm, „die Auswirkungen der Steuerreform auf die Einkommenssituation von Alleinerziehenden evaluieren und gegebenenfalls nachbessern, damit deren Armutsrisiko reduziert wird. Das Gleiche gilt für die Besteuerung des Mindestlohns“ (S. 78). Mit der Konzentration der Armutspolitik auf alleinerziehende Mütter sind man und frau schließlich bei der Familienpolitik angelangt. Sie bietet den Liberalen eine willkommene Gelegenheit, um ihrer Wahlklientel aus den Mittelschichten weitere Steuersenkungen in Aussicht zu stellen, von denen Niedrigverdiener nichts haben, und eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten schmackhaft zu machen, die Niedrigverdiener nur erleiden.
Ohne Vermögen Doch all diese Angaben über das Ausmaß der sozialen Unterschiede sind schlichtweg falsch: Der Rapport travail et cohésion sociale des Statec beschränkt sich ebenso wie die Angaben der meisten Parteien weitgehend auf die Wohnbevölkerung. Dadurch werden sowohl jene 43 Prozent der Erwerbstätigen ausgeblendet, die abends über die Grenze schlafen fahren, als auch die ausländischen Eigentümer der Kapitalien, die hierzulande verwertet oder ihrer Weiterverwertung zugeführt werden.
Außerdem beschränken sich fast alle Angaben auf Einkommen, meist sogar auf Löhne, wo die größten gesellschaftlichen Unterschiede durch Vermögen entstehen, da diese durch Renditen, Grundrenten oder Zinsen auf Kosten jener vermehrt werden, die nur ihre Arbeitskraft feilbieten können. Zum Schutz der Vermögensverhältnisse und Einkünfte aus Vermögen ersetzten die Vermögenden vor einem Jahrhundert das Zensuswahlrecht durch das Steuergeheimnis.
Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 sind die wachsenden Einkommensunterschiede und die Rezepte zu ihrer Verringerung ein häufiges Diskussionsthema. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty veröffentlichte 2013 einen Bestseller, als er in Le capital au XXIe siècle auf 970 Seiten vorrechnete, dass die Einkommens- und Vermögensunterschiede bald wieder so groß sein werden wie im 19. Jahrhundert, wenn nicht eine weltweite Kapitalsteuer eingeführt werde. Sein Kollege Philippe Askenazy forderte 2016 in Tous rentiers! Pour une autre répartition des richesses, dass die Produzierenden sich nicht mehr länger von den Rentiers vorwerfen lassen sollen, nicht produktiv genug zu sein. Während der US-amerikanische Sozialhistoriker Walter Scheidel vergangenes Jahr in The great leveler. Violence and the history of inequality from the stone age to the twenty-first century beschrieb, wie im Laufe der Geschichte Einkommensverbesserungen der Armen, Wirtschaftswachstum, progressive Steuern, Bildung, Sozialstaat oder Gewerkschaften die Einkommensunterschiede nicht wesentlich und anhaltend verringerten. Die Geschichte lehre vielmehr, „that effective leveling required violent shocks that at least temporarily curtailed and reversed the disequalizing consequences of capital investment, commercialization, and the exercise of political, military, and ideological power by predatory elites and their associates“ (S. 86), etwa Epidemien, Kriege oder Revolutionen.