In jedem Frühjahr, kurz bevor der jeweilige Premierminister vor dem Parlament seine Erklärung zur Lage der Nation verliest, erscheinen unter fast gleichlautenden Titeln zwei Jahrbücher über Sozialpolitik. Den Anfang machte 2007 die katholische Caritas mit ihrem Sozialalmanach, ihm folgte 2011 die eher sozialdemokratische Variante, das Panorama social der Salariatskammer. Die eine Schrift verkneift sich auch keine akademischeren Überlegungen, die andere will Munition für den politischen Alltagskampf liefern. Beide befassen sich dieses Jahr mit dem gleichen Thema, den gesellschaftlichen Ungleichheiten, wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Beide Blickwinkel zu vereinen, war Premierminister Xavier Bettel am Dienstag in seiner Erklärung zur Lage der Nation vorbehalten. In den Worten der Caritas meinte er, dass „der soziale Zusammenhalt zentral für ein Land mit einem allgemein hohen Lebensstandard“ sei, und in den Worten der Salariatskammer, dass „die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergehen“ dürfe. Damit war auch der Widerspruch zwischen beiden Standpunkten geglättet. Denn es kann eine politische Absicht sein, den Unterschied zwischen den Armen und den Reichen aus einem Gerechtigkeitsgefühl heraus zu verringern oder aus Effizienzüberlegungen heraus zu vergrößern. Andererseits zielt die Idee der sozialen Kohäsion auf eine gesellschaftliche Befriedung, die meist ohne Verringerung der Einkommens- und Vermögensunterschiede auskommen soll, etwas mit Ersatzleistungen wie Vaterlandsliebe, Rassismus, Tauschwirtschaft oder einem PIB du bonheur.
Was würde aus den Reichen, wenn es keine Arme gäbe? Die im Wahlkampf gewohnheitsmäßig etwas nach links driftende LSAP hat versprochen, den Kampf gegen die wachsenden sozialen Unterschiede zu einer der Prioritäten der nächsten Legislaturperiode zu erklären. Ihr Wirtschaftsminister Etienne Schneider versprach am Mittwoch, die Zahl der von Armut Bedrohten bis 2020 um 6 000 zu verringern. CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler berichtete, dass die Leute „mit Ausnahme einer Reihe Sozialfälle“ zufrieden seien. Marc Baum von déi Lénk klagte, dass binnen fünf Jahren die Armen ärmer geworden seien. Selbst die DP versprach am Sonntag, die soziale Frage durch weitere Steuerfreibeträge für vom Armutsrisiko bedrohte Alleinerziehende zu lösen. Aber viel weiter kann kaum eine Partei gehen, ohne sich blutige Finger an der Schere zwischen Arm und Reich zu holen. Denn allzu rasch stellte sie zur Disposition, was die Luxemburger Gesellschaft in ihrem Innersten zusammenhält.
Dazu zählt nicht nur die seit dem Ende des Steckel 1984 und des Kaltwalzwerks 2005 in mehreren Wahlkämpfen von ratlosen LSAP-Politikern aufgeworfene Frage, wem die Blechverarbeitung in Düdelingen nach den Wahlen gehören darf. Die steigenden Grundstückspreise drohen wieder zu feudalen Verhältnissen zu führen, als die Grundrente die wichtigste Einnahmequelle war und Landbesitzer die politisch einflussreichste Klasse darstellten, so dass Wohnungsbaupolitiker fast aller Parteien zufrieden sind, dass es keine Zaubermittel gibt. Und während noch immer einige vom monegassischen Modell bezauberte Politiker und Bankiers diskret nach französischen, arabischen oder russischen High Net Worth Individuals Ausschau halten, die den Gini-Koeffizienten mit ihren Lamborghini erhöhen, produziert die Finanzbranche mit aufopfernder Unterstützung von Ministerien und Verwaltungen ein rund um die Uhr das Vermögen anonymer Reicher mehrendes Söldnerheer in Porsche. Angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Luxemburger Modells muss sich das katholische bis sozialdemokratische Versprechen, die Schere zwischen Arm und Reich zu verringern, also als leere Floskel erweisen, hinter der sich bestenfalls die liberale Trickle-down-Theory versteckt, noch zynischer „Horse and Sparrow Economics“ genannt.