Am Samstagmorgen trafen sich in der Maison du peuple des OGBL in Esch-Alzette ein halbes Hundert Mitglieder der lokalen LSAP-Sektion, um über die Wahlkatastrophe zu reden, die am 8. Oktober über sie hereingebrochen war. Um die Trauerarbeit abzuschließen, beschlossen sie, einen „Erneuerungsprozess“ in Gang zu setzen mit altgedienten Rezepten wie mehr Volksnähe, mehr Facebook und mehr Verjüngung. Zwei Stunden später und 50 Meter weiter warben dann einige von ihnen, nicht alle, als OGBL-Mitglieder bei den Weihnachtskunden in der Alzette-Straße für die Kampagne „Mehr Kaufkraft jetzt!“ des OGBL.
Wie das zusammenpasste, begriff nicht jeder. Obwohl auf der Parteiversammlung einige Mitglieder gefunden hatten, dass die Lokalsektion nicht zu überheblich und zu unsolidarisch, also nicht sozialistisch genug, sondern, im Gegenteil, „zu links“ geworden war. Als Erneuerungsprozess hatten sie verlangt, dass die politische Laufbahn der ehemaligen Abgeordneten und nun auch ehemaligen Bürgermeisterin Vera Spautz ohne die geplante Schamfrist beendet werden sollte. Neben dem inzwischen als Innenminister ruhiggestellten Dan Kersch und dem ehemaligen FNCTTFEL-Präsidenten Nico Wennmacher, dem die Eisenbahnergewerkschaft vorübergehend zu links geworden war, war Vera Spautz eine Sprecherin des linken Gewerkschaftsflügels in der LSAP.
Der OGBL hatte seine Kampagne „Mehr Kaufkraft jetzt!“ eine Woche zuvor gestartet, um Druck auf die im beginnenden Wahlkampf besonders sensibel reagierende Regierung auszuüben. Außerdem sollen die politischen Parteien rechtzeitig die Gewerkschaftsforderungen vorliegen haben, bevor sie ihre Wahlprogramme abschließen. Denn die Gewerkschaften hatten sich 2013 überrumpelt gefühlt, als nach dem Sturz von CSV-Premier Jean-Claude Juncker eigens gegründete Unternehmerlobbys wie 2030.lu und 5 vir 12 mit ihrer Forderung nach einer liberalen Modernisierung den Wahlkampf auf Kosten der sozialen Frage dominierten.
Zu den zehn OGBL-Forderungen zur Erhöhung der Kaufkraft gehört auch der Ruf nach einer Erhöhung des Mindestlohns, die über die übliche gesetzliche Anpassung an die Preissteigerung und das allgemeine Lohnniveau hinausgeht. Nach dem „Zukunftspak“ getauften Sparpaket der Regierung hatte der OGBL 2015 eine Kampagne „E Sozialpak fir Lëtzebuerg“ begonnen, in der eine nicht näher bezifferte „Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns“ gefordert worden war. Vergangenes Jahr verlangte er dann eine „strukturelle Erhöhung“ um zehn Prozent.
In seiner neuen Kampagne begründet der OGBL seine Forderung nach einer zehnprozentigen Mindestlohnerhöhung damit, dass „sich 16,5% der Bevölkerung unter der Armutsgefährdungsschwelle“ befänden. Der Mindestlohn für Unqualifizierte sei „niedriger als das Mindesteinkommen, das notwendig ist, um die lebenswichtigen Bedürfnisse abzudecken, so wie es die Studie des Statec zum Referenzhaushalt darlegt. So verfügt ein Mindestlohnempfänger, in Steuerklasse 1, über ein Nettoeinkommen von 1 727 Euro, obwohl er mindestens 1 923 Euro bräuchte, um, laut Statec, sei es auch nur ein dezentes Leben zu führen (im Fall eines alleinlebenden Mannes).“ Zudem hätten die Mindestlohnempfänger ein Anrecht darauf, an den Produktivitätsgewinnen der Betriebe teilzuhaben. Außerdem verlangt der OGBL die vollständige Befreiung der Mindestlohnbezieher von der Einkommenssteuer.
Nach einer Zusammenkunft der LSAP-Führung mit der Gewerkschaftsspitze am 21. Juni dieses Jahres unterstützt die Partei ebenso werbewirksam wie unverbindlich die Forderung nach einer zehnprozentigen Mindestlohnerhöhung. Den Anfang machte Arbeitsminister Nicolas Schmit, der fand, dass eine Mindestlohnerhöhung kein Tabu sein dürfte und am 29. November gegenüber RTL bekräftigte: „Ich habe tatsächlich gesagt, dass es kein Tabuthema sein darf, und dass wir auch eine Analyse machen müssen, wie weit unsere Wirtschaft diese Erhöhung des Mindestlohns ertragen kann. Ich meine, dass sie sie reichlich ertragen kann. Deshalb ist die Zeit gekommen, darüber nachzudenken und vielleicht auch eine erste Etappe zu machen. Das muss ja nicht, so wie es vorgeschlagen wurde, in einer Etappe gehen.“
Laut Nicolas Schmit könne „man kann jetzt darüber nachdenken, ob man nicht eine außergewöhnliche Erhöhung relativ schnell in Betracht ziehen“ könne, vielleicht noch vor den Wahlen. Er hütete sich aber vor irgendeiner festen Zusage, außer dass man mit den Sozialpartnern über eine Mindestlohnerhöhung diskutieren solle, weil er „nichts von oben herab dekretieren“ wolle. Wozu eine solche Diskussion führt, weiß der Minister aber schon, da er Anfang des Jahres bei den Sozialpartnern des Wirtschafts- und Sozialrats ein Gutachten über den Mindestlohn bestellt hatte, das darauf hinauslief, dass sich Unternehmer und Gewerkschafter nicht einmal auf ein gemeinsames Papier einigen konnten.
Dann kam Fraktionssprecher Alex Bodry und erklärte mit der Würde seines Amtes, den Arbeitsminister voll und ganz zu unterstützen. Danach war es an den Jungsozialisten, die in einer Pressemitteilung beteuerten: „Les JSL soutiennent l’initiative de l’OGBL et l’ouverture du ministre Nicolas Schmit pour une éventuelle augmentation du salaire minimum. Les JSL en tant que sous-organisation du LSAP, le parti du travail et des salariés, soulignent l’importance d’une telle augmentation pour les salariés les moins bien payés et leurs familles.“
Die OGBL-Forderung kommt einer LSAP nicht ungelegen, die vor den Wahlen stets ihr „sozialpolitisches Profil schärfen“ muss, um sich von den anderen Parteien zu unterscheiden. Seit 1984 geschah dies mit schöner Regelmäßigkeit in Form eines Index-Wahlkampfs. Doch weil seit Beginn der Legislaturperiode Ende 2013 die jährliche Inflationsrate einen halben Prozent ausmachte, hat sich auch der Kampf um die Anpassung der Löhne und Renten an die Inflation erübrigt. Dass das mit Unterstützung der LSAP vorübergehend außer Kraft gesetzte Gesetz über die automatische Indexanpassung wieder in Kraft ist, konnte Wirtschaftsminister Etienne Schneider um so mehr als Erfolg feiern, als es beinahe folgenlos blieb: Seit dem Antritt von DP, LSAP und Grünen wurde binnen vier Jahren eine einzige Indextranche, Anfang 2017, ausgezahlt, eine zweite könnte nächstes Jahr noch vor den Wahlen fällig werden.
Dass die meisten anderen Parteien die Mindestlohnerhöhung ablehnen, treibt Wasser auf die Mühlen der LSAP. Weil es unter den DP- und grünen Wählern noch weniger rund 2 000 Euro verdienende Verkäuferinnen, Kellner, Reinigungs- und Sicherheitsleute gibt als unter den LSAP-Wählern, sieht die DP keinen Handlungsbedarf und lavieren die Grünen. Die CSV fragte in einer Erklärung, „ob die Ankündigung von Minister Nicolas Schmit zur Mindestlohnerhöhung nur seine persönliche Meinung ist, oder ob er im Namen der Bettel-Regierung sprach“, und CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler tat eine zehnprozentige Erhöhung am Montag als „absolut nicht realistisch“ ab.
Die LSAP hat eben das Glück, sowohl den Arbeits- wie den Wirtschaftsminister zu stellen. Den Arbeitsminister, der den Lohnabhängigen eine Mindestlohnerhöhung versprechen kann, und den Wirtschaftsminister, der den Unternehmen eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit versprechen kann. Das macht die CSV so wütend, weil es seit Jahrzehnten zum Geschäftsmodell der erfolgreichen Volkspartei gehört, widersprüchliche gesellschaftliche Interessen zu bedienen und auf allen Hochzeiten zu tanzen.
Selbstverständlich hat die CSV nicht Unrecht, wenn sie bemerkt: „Die Regierung hatte vier Jahre Zeit, um zu handeln und zu verhindern, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet. Die Regierung hat aber nicht gehandelt, obwohl laut Statec-Bericht Travail et Cohésion sociale ein Fünftel der Bevölkerung armutsgefährdet ist.“ Doch in Wirklichkeit ist das Verhältnis der Regierung und der LSAP zum Mindestlohn noch fragwürdiger.
Schließlich hätte die Regierung dem Mindestlohn schon 2015 auf die Sprünge helfen können, als sie ihn gemäß Art 222-2, Absatz 2 des Arbeitsgesetzbuches um lediglich 0,1 Prozent an die allgemeine Lohnentwicklung anpassen ließ, was viele Mindestlohnbezieher als Frechheit empfanden. Der entsprechende Gesetzentwurf trug übrigens die Unterschrift von Arbeitsminister Nicolas Schmit. Auch zwei Jahre später, Anfang dieses Jahres, wurde der Mindestlohn nur an die allgemeine Lohnentwicklung angepasst, wie es das Gesetz vorschreibt; gleichzeitig war aber eine Indextranche fällig geworden und die Steuerreform in Kraft getreten.
Das DP-Wahlprogramm hatte Lionel Fontagnés Vorschlag übernommen, den Mindestlohn für Berufsanfänger zu kürzen. Daraus wurde vorerst nichts, andererseits verzichtete die Reformregierung, die die Fenster weit aufreißen wollte, darauf, die laut Sozialcharta des Europarats diskriminatorische Kürzung des Mindestlohns für Minderjährige um 20 bis 25 Prozent abzuschaffen.
Nachdem das Berufungsgericht kurz vor den Wahlen 2013 im Rahmen eines jahrelangen Rechtsstreits Putzfrauen Recht gegeben hatte, dass ihre Berufserfahrung ihnen Anrecht auf den 20 Prozent höheren qualifizierten Mindestlohn gibt, hatte die Regierung dem Unternehmerdachverband UEL im Januar 2015 schriftlich versichert, das seit 1965 anerkannte gesetzliche Prinzip abzuschaffen und so den Putzfirmen nachträglich Recht gegen das Berufungsgericht zu verschaffen. Die Regierung hatte am 18. Januar 2015 einen Gesetzentwurf zur Reform der Berufsausbildung auf den Instanzenweg gegeben, durch den Inhaber eines Certificat de capacité manuelle (CCM) und einen Certificat de capacité professionelle (CCP) nicht mehr nach zwei beziehungsweise fünf Jahren Berufspraxis, sondern erst nach sieben Jahren Anspruch auf den qualifizierten Mindestlohn erhalten sollten. Angesichts des Widerstands gegen die gesamte Reform zog sie den Entwurf vorerst zurück.