„Was viele nicht wissen, das System so wie es zur Zeit besteht, lässt nur einen sehr geringen Spielraum, der soziale Aufstieg ist nur sehr schwer möglich, es sei denn man hieße Münchhausen.“ So schrieb ein anonymer Autor mit dem Kürzel JM über die Wirkung der Beschäftigungsinitiative AIP (Activité d’insertion professionnelle) in der Zeitschrift Stëmm vun der Strooss. Die Obdachlosenorganisation hatte eine Nummer zum Schwerpunkt „Aus der sozialer Exclusioun op den 1. Aarbechtsmaart“ herausgebracht.
Darin beschäftigte sie sich mit einem Dauerbrenner: der Ausgrenzung Tausender Langzeitarbeitsloser und RMG-Bezieher vom ersten Arbeitsmarkt und ihren Schwierigkeiten, einen Ausstieg aus der Armutsfalle zu finden. Auf den ersten Blick, könnte man meinen, müssten JM die Pläne der DP-LSAP-Grüne-Regierung zusagen, das Revenu minimum garanti (RMG), das künftig Revenu d’inclusion sociale heißen soll, stärker als bisher mit Aktivierungsmaßnahmen und Eingliederungsinitiativen zu verbinden.
Ziele solle sein, dass sich Arbeit wieder lohne, hatte Familienministerin Corinne Cahen (DP) in einem Wort-Interview gemeint. Luxemburg folgt Vorgaben der EU-Kommission, im Rahmen der Agenda für Wachstum und Beschäftigung die Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dafür werden arbeitslose Revis-Bezieher in zwei Gruppen unterschieden: jene, die die Adem als grundsätzlich arbeitsfähig einstuft und jene, die aufgrund von Krankheit, Sucht oder anderen Einschränkungen dem Arbeitsmarkt nicht, respektive nicht uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Entsprechend der Logik, dass wer arbeiten kann, dies tun soll, würde der Revis aus zwei Zulagen bestehen: eine, die den Lebensunterhalt absichern soll (Allocation d’inclusion) sowie eine, die Beschäftigung finanziell belohnt (Allocation d’activation). „Das kann eine Erwerbsarbeit sein. Die Teilnahme an Wiedereingliederungs- und Fortbildungsmaßnahmen, aber auch Gemeinschaftsarbeiten und Maßnahmen zur Stabilisierung fallen ebenso darunter“, erklärt Brigitte Weinandy, Leiterin des Snas, Service national d’action scoiale, der künftig Office national d’inclusion sociale (Onis) heißen soll.
Die Prüfung der Beschäftigungsfähigkeit obliegt der Adem, bei der sich jede/r Revis-Anwärter/in einschreiben muss. „Das Profiling muss so objektiv wie möglich sein. Wir gucken verschiedene Kriterien, um zu bestimmen, ob jemand beschäftigungsfähig ist und von uns betreut wird, oder nicht. Ist er es nicht, übernimmt das Onis die Begleitung“, erklärt Isabelle Schlesser, Leiterin der Adem und wesentlich an der Planung der Reform beteiligt. Die Kriterien stünden nicht endgültig fest, sie werden in Absprache mit Vertretern des Familien- und des Arbeitsministeriums entwickelt. „Ein Wechsel zwischen Begleitung durch die Adem oder engere Betreuung durch den Onis ist zu jeder Zeit möglich“, so Schlesser weiter.
Wer als beschäftigungsfähig gilt, bekommt einen Berater vom Arbeitsamt zugeteilt. Gemeinsam wird geprüft, welche Weiterbildungsmaßnahmen, Wiedereingliederungshilfen oder Umschulungen ergriffen werden. Das ist heute bereits so, die Zuständigkeiten werden nur genauer gefasst. Im Gesetzentwurf heißt dies Bürokratieabbau; für die Betroffenen hat es den Vorteil, dass sie künftig nur einen Ansprechpartner haben. Das ist bisher nicht der Fall und führte teils zu absurden Situationen, dass erwerbstätige RMG-Bezieher eine Auflage vom Arbeitsamt erteilt bekamen, ohne dass diese mit der Beschäftigungsmaßnahme koordiniert war.
Trotzdem geht bei Betroffenen die Angst um. Ob jetzt alle, unbesehen ihrer persönlichen Verfasstheit und Lebenssituation, arbeiten müssten und bei Weigerung bestraft würden, sorgten sich Arbeitslose, mit denen d’Land nach Bekanntwerden der Reformpläne sprach. Revis-Beziehern, die sich Aktivierungsmaßnahmen verweigern, kann die staatliche Unterstützung für drei Monate entzogen werden. „Das war in der Vergangenheit aber selten der Fall und wird auch in Zukunft nicht anders sein“, beruhigt Brigitte Weinandy vom Onis. Bei insgesamt rund 10 000 Haushalte mit fast 20 000 Einzelpersonen, die RMG beziehen, wurde 2016 pro Monat etwa ein halbes Dutzend Mal die Auszahlung durch den zuständigen Fonds national de solidarité (FNS) gestoppt. Weinandy verweist auf eine verbesserte Betreuung, die „im Interesse der Betroffenen“ sei und von diesen „selbst gefordert“ werde. „Wenn unsere Mitarbeiter gegen die Menschen handeln, erreichen sie wenig. Ein wichtiges Element einer guten Beratung ist die individuelle Motivation. Wir arbeiten mit den Betroffenen eng zusammen.“ Doch was als mehr Hilfe zu autonomer Lebensführung angepriesen wird, bedeutet zugleich, dass staatliche Unterstützung erst verdient werden muss: Aus der Idee der Berechtigung wird die Verpflichtung zur aktiven Selbsthilfe.
Um die Betreuung zu verbessern, erhält das Onis 15,8 Millionen Euro zusätzlich. Das Personal zu finden, wird nicht leicht: Landesweit fehlen erfahrene Sozialpädagogen und Sozialarbeiter. Die Betreuer erstellen mit den Betroffenen einen Entwicklungsplan, der je nach Bedarf erst die persönlichen Verhältnisse stabilisiere, dann Kompetenzen stärken und auf Erwerbsarbeit vorbereiten soll. Wobei eine rasche Heranführung an den ersten Arbeitsmarkt selbst bei besserem Betreuungsschlüssel schwierig werden dürfte. „Für jemanden, der aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung oder einer Sucht nicht voll belastbar ist, kann eine Beschäftigungsinitiative in einem Sozialbetrieb, die ihm wieder eine Richtung gibt, ein Erfolg sein“, betont Brigitte Weinandy. Allein auf Vermittlungsquoten in den ersten Arbeitsmarkt zu schauen, werde der Problematik nicht gerecht. Oft gehe es darum, die Betroffene zunächst zu stabilisieren.
Viel zu oft wird diese Stabilisierung konterkariert. Die Activité d’insertion professionnelle, die Langzeitarbeitslose an eine geregelte Beschäftigung heranführen soll und mit dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet wird, ist auf ein Jahr befristet. Endet sie, beginnt die Suche nach einer Beschäftigung erneut – und kehren Existenzsorgen zurück. Analysen darüber, in welchen Maßnahmen von Adem und Snas Arbeitslose wie lange verbleiben und wie oft ihnen der Sprung in den ersten Arbeitsmarkt gelingt, ohne dabei in prekären Jobs unterzukommen, sucht man vergeblich. Die Inspection générale de la sécurité sociale hatte 2013 den Verlauf von RMG-Biografien, Bezugsdauer, Haushaltstyp, Teilnahme an Maßnahmen untersucht. Eine millionenschwere Reform zu lancieren, ohne Auswertung bestehender Instrumente, ist bemerkenswert, zumal bei einer Regierung, die sonst schnell mit Audits zur Hand ist. Neue Namen für Maßnahmen und Verwaltungen werden Drehtüreffekte jedenfalls nicht verhindern. Was fehlt, sind unbefristete Jobs, die den Lebensunterhalt absichern.
In den Beschäftigungsmaßnahmen der Stëmm sind Langzeitarbeitslose angestellt, deren Profil Arbeitsamtsberater und Soziologen mit „Multi-Problemlagen“ oder „individuellen Risikofaktoren“ beschreiben: mehrere Jahre arbeitslos, fortgeschrittenes Alter, ohne abgeschlossene Ausbildung oder gering qualifiziert, womöglich gesundheitliche Probleme. Wobei nicht immer eindeutig ist, was zuerst da war: die Arbeitslosigkeit oder die gesundheitlichen Probleme. Dass Langzeitarbeitslosigkeit stigmatisiert und beruflichen Misserfolge das Selbstbewusstsein dauerhaft beeinträchtigen, haben unzählige Studien über Langzeitarbeitslose nachgewiesen. Das gilt auch für das Rotieren in Wiedereingliederungsmaßnahmen oder das „Parken“ in Beschäftigungsinitiativen.
Um älteren Langzeitarbeitslosen eine dauerhafte Beschäftigungsperspektive zu bieten, verstärkt das Arbeitsministerium seine Kooperation mit den Gemeinden: Wer eine/n Langzeitarbeitslose/n über 50 unbefristet einstellt, soll die Stelle zu 100 Prozent vom Staat finanziert bekommen. Auch die Ausweitung von Kombi-Lohnmodellen ist im Gespräch, wobei öffentlich subventionierte Jobs in der Privatwirtschaft den Drehtüreffekt verstärken, wenn dafür reguläre Stellen verloren gehen. Sozialinitiativen fordern ebenfalls unbefristete Stellen für Arbeitslose, die nicht mehr so leistungsstark sind. Das Ministerium für Solidarwirtschaft sollte hierzu eigentlich Vorschläge vorlegen.
Das gerät beim Aktivierungseifer aus dem Blick: Auch wenn der einzelne Arbeitslose immer enger betreut wird, gibt es für die Langzeitarbeitslosigkeit, neben individuellen Risikofaktoren, strukturelle Ursachen. Oft stammen Arbeitslose aus Branchen, die abgebaut oder stillgelegt wurden, die fortschreitende Technologisierung und Rationalisierung führen dazu, dass immer mehr Tätigkeiten von immer weniger Arbeitskräften erledigt werden. Zunehmende Flexibilisierung bedeuten weniger sichere Beschäftigungsverhältnisse. Wenn durch Digitalisierung oder Automatisierung ganze Branchen ihre Produktionsprozesse verschlanken und Unternehmen überdies den Moment verschlafen, ihre Mitarbeiter rechtzeitig darauf vorzubereiten und weiterzubilden, entstehen Defizite, die sich später verfestigen können. Da hilft auch kein Schnellkurs in Excel. Der Arbeitsmarkt heutzutage verändert sich so rasant, dass eine Weiterbildung, die gestern den neusten Stand der Technik abbildete, morgen schon zum alten Eisen gehört.
So mechanisch wie Unternehmerverbände glauben machen, wenn sie über Mismatching klagen (unbesetzte Stellen bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit), funktioniert der Arbeitsmarkt nicht. Zu analysieren, welche neuen Kompetenzprofile eine Branche braucht, dazu Aus- und Fortbildungsangebote zu schaffen, die Menschen zu überzeugen, diese anzunehmen, ist ein komplexes und widersprüchliches Unterfangen, oft mit ungewissem Ausgang. Wer eifrig alle Weiterbildungsangebote nutzt, in der Hoffnung, so schneller Arbeit zu finden, setzt sich zugleich dem Risiko aus, trotzdem nicht den Anschluss zu finden: Dem Münchner Arbeitsmarktforscher Dirk Kratz zufolge, der die Biografien von und Hilfen zur Arbeit für Langzeitarbeitslose in Deutschland analysiert hat, richten dortige Jobcenter „großen Schaden an“, weil viele Maßnahmen die beruflichen Erfahrungen der Arbeitslosen zu wenig berücksichtigen und sie so die „komplette bisherige Berufsbiografie entwerten“.
Die Vermittlungsstellen in Luxemburg werden im Zuge der Revis-Reform übrigens eine Gruppe zu betreuen haben, über die bislang wenig gesprochen wird: die Lebenspartner(innen) in RMG-Haushalten, die bisher nicht erwerbstätig waren. Künftig können beide Partner bis zu 25 Prozent hinzuverdienen, ohne dass dieses Einkommen auf den Revis angerechnet wird. „Darunter befinden sich sicherlich etliche, die ein Jahr und mehr komplett aus dem Arbeitsmarkt verschwunden waren“, warnt Isabelle Schlesser von der Adem. Auf rund 1 300 Frauen schätzt Brigitte Weinandy diese Gruppe. Beschäftigungsmöglichkeiten für sie gibt es im (schlecht bezahlten) Hotel- und Gaststättengewerbe, im Bau, im Reinigungssektor. „Die Frage ist, ob die Frauen diese Jobs wollen“, sagt Schlesser.
So sind die einzigen, die von der Aktivierungslogik ausgespart bleiben, Kinder. Für sie gibt es nach dem neuen System höhere Zulagen. Böse Zungen mögen einwenden, die Schonzeit sei kurz und schon Kleinkinder würden auf ihre späteren Rollen getrimmt: Wenn in Kinderkrippe und -tagesstätte Programme der non-formalen Bildung die Weichen dafür stellen, dass sie später erfolgreich in der Schule sind, eine Anstellung finden, in die Sozialversicherung einzahlen und dem Staat bitte bloß nicht auf der Tasche liegen.