Von Feststimmung war am Montagabend im Kulturzentrum Beggen nichts zu spüren. Dorthin hatte das Familienministerium eingeladen, um gemeinsam Bilanz zu ziehen. Der fünfjährige Aktionsplan für Menschen mit Behinderungen läuft Ende dieses Jahres aus. Was ein Schlüsselmoment in der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in Luxemburg ist, wurde zu einem Abend, wie man ihn bei dem Thema häufig erlebt: Viele Interessierte waren gekommen, im Rollstuhl, in Begleitung, zu Fuß. Es gab vieles zu bereden, Übersetzer, Gebärdendolmetscherin und Zeit waren da.
Und doch kam die Debatte über Klagen von Einzelpersonen kaum hinaus, war von persönlichem Frust und Diskriminierungen die Rede. Mit Ausnahme von Fragen zum Vormundschaftsrecht, zum Recht auf inklusive Bildung beziehungsweise zur sehr strittigen Reform der Éducation différenciée, zur Selbstbestimmung und zur politischen Partizipation, blieb außer schwer zu beurteilenden Einzelfällen nichts Greifbares zurück. Den Betroffenen ist kein Vorwurf zu machen. Viele von ihnen haben berechtigte Anliegen und wissen erkennbar nicht, wo sie mit ihren Sorgen Gehör finden. Dass der Abend so zerfransen konnte, lag daran, dass die Organisatoren keine Struktur und Moderation erkennen ließen, außer offenen Saalmikrofonen, an denen jede/r vortragen konnte, was ihm oder ihr auf der Seele brannte.
Viele Einzelfälle
Die Bilanz des Aktionsplans wurden entlang dreier Rubriken vorgestellt: „So soll es sein“, „Das wurde gemacht“ und „Vorschläge der UN“ (die richtigerweise Empfehlungen hätte heißen müssen). Der Versuch, die Etappen einer komplexen mehrere Ministerien betreffenden Marschroute in einfache Sprache zu übersetzen, führte dazu, dass gewählte Beispiele verkürzt und oberflächlich behandelt wurden.
So wurde nicht deutlich, welche Prioritäten das Familienministerium (Ministerin Corinne Cahen, DP, war wegen Krankheit entschuldigt), das die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention koordiniert, verfolgt: Eine Reform des Vormundschaftsrecht von 1982, das Menschen mit Behinderungen entmündigt, statt sie in der Entscheidungsfindung zu unterstützen, ist dringender als Schulungs- oder Sensibilisierungsmaßnahmen. In der Powerpoint-Präsentation war kein Unterschied in der Rangfolge der To-Do-Liste auszumachen. Weil eingängige Orientierungshilfen wie Ampelfarben (Grün für erledigt, Gelb für in Umsetzung, Rot für nicht umgesetzt) fehlten, war es unmöglich festzustellen, welche Hausaufgaben in den Bereichen Arbeitsmarktzugang, Bildung, Gesundheit, Schutz, politische Rechte und so weiter die jeweiligen zuständigen Ministerien mit welchen Ressourcen nach den fünf Jahren erledigt haben – und welche nicht. Matthias Schmitt von der Behinderten-Selbsthilfegruppe Nëmme mat eis regte an, sich „an der Chronologie der Behindertenrechtskonvention zu orientieren“. Hinzu kamen Patzer, wie die Behauptung, die Experten der UN, die über den Fortschritt der Umsetzung wachen, hätten etwa zum Bereich Transport nichts empfohlen: Die Schlussbetrachtungen vom Oktober zum Länderbericht Luxemburg halten den öffentlichen Transport für „nicht ausreichend“ und mahnen weitere „Mechanismen“ für einen barrierefreien Zugang, sowie unterstützende Informations- und Kommunikationstechnologien für Menschen mit Behinderungen an (Seite 4).
UN übt Kritik
Luxemburg war im August vor den Behindertenausschuss der UN nach Genf geladen worden, um ergänzend zum Länderbericht vom März 2017 zu erklären, woran die Regierung bei der Inkraftsetzung der ratifizierten Behindertenrechtskonvention ist. Eine große Delegation mit Vertretern fast aller Ministerien war angereist. Sogar von solchen, die sonst bei Handicap-Themenabende oft fehlen, wie das Justizministerium des Grünen Félix Braz. Doch die Antworten, die die Offiziellen auf die gut vorbereiteten Fragen der UN-Experten gaben, waren oft lückenhaft. Obwohl im höflichen Diplomatenenglisch verfasst, lesen sich die Schlussbetrachtungen zu den Erläuterungen aus Luxemburg wie eine Ohrfeige. Oder besser: wie mehrere Ohrfeigen.
Der UN-Behindertenrechtsausschuss monierte zunächst, dass Behinderung hierzulande nach wie vor medizinisch-gesundheitlich definiert wird. Das führt dazu, dass Betroffene Rechte nach dem Grad ihrer Behinderung bewilligt bekommen (oder auch nicht) und nicht als Menschenrecht per se. Dies sei „ein fundamentaler Defekt, tief im System verwurzelt“, tadelte Berichterstatter Coomaravel Pyaneandee. Diese Logik ist der Grund, warum Luxemburg bis heute bei der Partizipation und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen Riesennachholbedarf hat.
Die Vormundschaftsreform sollte eigentlich dieses Jahr vorliegen, aber weil kein Vertreter des Justizministeriums am Montagabend anwesend war, blieben diesbezügliche Fragen unbeantwortet. Offenbar wussten Betroffene nicht einmal, dass eine Arbeitsgruppe zum Thema tagt. Erläuterungen zu einem ersten Vorentwurf hatten den UN-Ausschuss im August indes nicht sonderlich beeindruckt, der auf unterstützende statt auf ersetzende Entscheidungsfindung durch einen Vormund pocht. Doch auch dort, wo Vertreter der zuständigen Ministerien anwesend waren, etwa der sozialen Sicherung oder des Arbeitsamts, blieben Antworten unbefriedigend, da „zu vage“, wie Teilnehmer nach der Veranstaltung dem Land berichteten.
So gesehen, verlief die Diskussion typisch, weil sie sieben Jahre nach Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention die Schieflage in der Beziehung zwischen Staat und behinderten Bürgern deutlich vor Augen führte: Es gibt keine systematische, effizient organisierte Debatte auf Augenhöhe. Es ist ein Detail, gleichwohl symptomatisch, dass die zuständige Beamtin im Familienministerium in ihrer Antwortrede in Genf mehrfach viel zu schnell vom Blatt ablas, sodass die Gebärdendolmetscherin kaum mit dem Übersetzen hinterherkam.
Anspruch und Wirklichkeit
Menschen mit Behinderungen, die Beschwerden vortragen, erhalten als Antwort technische Ausführungen von Beamten, die auf Gesetze oder Verwaltungsvorschriften verweisen. Die nicht sehen können oder wollen, dass Anspruch und Wirklichkeit häufig auseinanderklaffen. So entgegnete Gaby Wagner, stellvertretende Direktorin der Adem auf die Klage einer Frau im Rollstuhl über mangelnde Unterstützung bei der Reintegration in den Arbeitsmarkt, die im Juli geschaffene Vermittlungsstelle Cosp-HR (Centre d’orientation socio-professionnelle pour les demandeurs d’emploi avec statut de salarié handicapé et/ou reclassé externe) habe 40 Personen mit beschränkter Arbeitsfähigkeit einen Job verschafft. Das ist löblich, angesichts des ökonomischen Drucks, dem sich viele behinderte Arbeitnehmer ausgesetzt sehen, die oft als Travailleur handicapé nur den Mindestlohn verdienen, aber ein Tropfen auf den heißen Stein.
Wenn staatliche Vertreter meinen, Unternehmen, die die gesetzliche Auflage, auch Arbeitnehmer mit Behinderungen einzustellen, nicht einhalten, sollten nicht bestraft werden, fragen sich Betroffene zu Recht, wozu es überhaupt Gesetze gibt. Es ist ein Versäumnis auch der (staatlich finanzierten) Behindertenverbände, hier nicht für mehr Druck zu sorgen, denn selbst der Staat erfüllt seine Quote von fünf Prozent nicht. Das ist eine weitere Lücke, die zu schließen von der UN angemahnt wird: In Luxemburg existiert kein wirksames (Verbands-)Klagerecht, das Personen hilft, die sich in Job und Gesellschaft diskriminiert sehen, ihr Recht erfolgreich vor Gericht durchzusetzen. Die Stellen, die über das Diskriminierungsverbot wachen sollen, wie das Centre pour l’égalité du traitement, die Menschenrechtskommission, auch in Genf vertreten, oder die Ombudsfrau, sind entweder chronisch unterfinanziert, können nicht klagen oder sie sind nicht zuständig.
Statt nun mit diesem ernüchternden Zwischenfazit umzugehen und schleunigst auf zentralen Punkten Abhilfe zu schaffen, wiederholen sich bei neuen Initiativen hartnäckig alte Reflexe: Obwohl der Aktionsplan Ende diesen Jahres ausläuft, klagen Betroffene, bisher keine offizielle Einladung zu Gesprächen für den neuen Plan erhalten zu haben. Eine (deutschsprachige) Webseite, auf der für alle ersichtlich wäre, was der Stand der Vorbereitungen ist und wo man sich, bei Interesse, in die Arbeitsgruppen melden kann, fehlt. Nicht einmal ein Exemplar der UN-Konvention in Gebärdensprache ist bisher online. Luxemburg hinkt schon jetzt deutlich dem Zeitplan hinterher, da mag Ministerin Corinne Cahen in Interviews zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember die eigene Arbeit noch so loben und beteuern, dass „Wahlfreiheit und Selbstbestimmung“ ihr ein Anliegen seien.
Alte Reflexe
Bis heute fehlen verlässliche Kommunikationswege, mit denen neben den Behindertenverbänden Einzelpersonen informiert werden. Die Aufgabe allein den Behindertenverbänden zu überlassen, die sich in erster Linie ihren Mitgliedern verpflichtet fühlen, klappt nicht, wie die Erfahrung lehrt. Warum nicht einen zentralen Online-Newsletter über alle Neuerungen, Veranstaltungen, Projekte, in den sich Interessierte eintragen können, wie Nëmme mat eis es vorschlägt?
Es gibt Fortschritte: Der Gesetzentwurf zur Anerkennung der (deutschen) Gebärdensprache, der es hörgeschädigten Personen erlaubt, Informationen in Gebärdensprache zu erhalten, liegt endlich vor. Auch das Projekt Cosp von der Adem ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber die persönliche Assistenz, eine zentrale Forderung von Menschen mit Behinderungen, weil sie ihnen ein selbstbestimmtes Leben erlaubt, kommt nicht voran. Die Regierung hat hierzu lediglich eine Studie in Auftrag gegeben. In Genf ließ sich beobachten, was persönliche Assistenzen bewirken können: Experten, die trotz Mehrfachbehinderungen hochkarätige Arbeit leisten. Das reiche Luxemburg macht hier keine gute Figur, obwohl es die finanziellen Mittel hätte, die persönliche Assistenz zu finanzieren. Immerhin: Zur Reform des Zugangsgesetzes von 2008, für Ende des Jahres versprochen, wurde dem Höchsten Rat für Menschen mit Behinderungen diese Woche ein Vorentwurf vorgestellt, wenngleich nicht ausgehändigt.
Und dann erfolgen wieder Rückschläge wie die Kopfstützen-Panne, die Anlass geben, an der Führungsqualität des koordinierenden Familienministeriums zu zweifeln. Wie kann es sein, dass das Transportministerium eine Vorschrift erlässt, die allen Rollstuhlfahrern quasi von heute auf morgen eine Kopfstütze vorschreibt, in sämtlichen Gremien gutgeheißen wird, aber die nie mit den Betroffenen selbst besprochen wurde? Da werden Menschen mit Behinderungen von Busfahrern abgewiesen, weil ihr Rollstuhl keine Kopfstütze hat. Nach Protesten ruderte das Ministerium rasch zurück und hat die Regelung inzwischen zurückgezogen.
Ähnlich ignorant war die Vorgehensweise des Bildungsministeriums bei den Équipes multiprofessionnelles (jetzt Équipes de soutien des élèves à besoins éducatifs particuliers ou spécifiques), die seit September den Regionaldirektionen (früher: Inspektoren) unterstellt sind. Die entsprechende Gesetzesänderung hatte der – beratende – Oberste Rat für Menschen mit Behinderungen erst zwei Wochen vor der Parlamentsdebatte erhalten. Seine in großer Hast geschriebene Stellungnahme war am Tag des Votums fertig, zu spät, um noch berücksichtigt zu werden.
Erfreulich: Beim Tram, der diesen Sonntag erstmals offiziell fährt, soll alles besser sein: mit Sehgeschädigtenleitstreifen am Boden, akustischen Annoncen der Haltestellen, Sprachenfunktionen, Braille-Schrift im Aufzug, Behinderten-WC, ebenerdigen, zugänglichen Plattformen und Spezialtüren für Rollstuhlfahrer und Sehgeschädigte.
Nicht reden, handeln
Menschen mit Behinderungen sind nicht die einzige Personengruppe, die ernsthaft einzubeziehen die Politik regelmäßig versäumt: Ob in der Jugendhilfe oder bei der Elternbeteiligung in der Schule: Partizipation ist ein Modewort, das politische Sonntagsreden schmückt, aber in der Praxis wenig systematisch umgesetzt wird. Das zeigt sich nicht zuletzt beim Versprechen der DP-LSAP-Grüne-Regierung, transparent und zugänglich sein zu wollen: Ein Informationszugang, der Bürger berechtigt, Informationen bei Verwaltungen einzufordern, fehlt bis heute. Auch übersichtliche, verständlich geschriebene offizielle Webauftritte sind keine Selbstverständlichkeit.
Für Menschen mit Behinderungen sind solche Unterlassungen besonders gravierend, weil sie aufgrund ihrer Einschränkungen stärker auf Unterstützungssysteme angewiesen sind als andere. Die Geschichte ihre Bevormundung ist alt und so lange nicht abgeschlossen, wie Bewohner/innen von Behindertenheimen wegen unflexibler Schließzeiten um acht Uhr abends nicht an Veranstaltungen wie der am Montag teilnehmen können. Dann ist es mit der versprochenen Selbstbestimmung schnell wieder vorbei.