Der Nachhaltigkeitsrat drängt die politischen Parteien, noch öfter „Nachhaltigkeit“ in ihre Wahlprogramme zu schreiben

Spannkraft und Genügsamkeit

d'Lëtzebuerger Land du 23.02.2018

Das Héichhaus war 1966 im neuen Kirchberger Europa-Viertel zusammen mit der Roten Brücke eingeweiht worden. Es war nach einem italienischen Parteikollegen von Premier Pierre Werner, Alcide de Gasperi, benannt worden, und seine provinzielle Himmelsstürmerei galt als kühnes Bekenntnis zu Europa und vor allem zum Fortschritt und zur Moderne. Inzwischen haben Fortschritt und Moderne ihren Glanz verloren und die Europabeamten sind den Beamten des Nachhaltigkeitsministeriums gewichen. So konnte der Conseil supérieur pour un développement ­durable die politischen Parteien am Dienstag in das 22. Stockwerk des Héichhaus laden, um ihnen mittels Powerpoint „eine Reihe Leitideen“ vorzuführen, die sie „in ihre Wahlprogramme einbauen“ sollen, so Präsident Francis Schartz.

Der Nachhaltigkeitsrat war kurz vor den Kammerwahlen 2004 nach deutschem Vorbild geschaffen worden als überparteiliche Expertengruppe, die laut Gesetz über Nachhaltigkeit diskutieren und forschen lassen, Gutachten abgeben, die Öffentlichkeit einbinden und Beziehungen zu ausländischen Räten unterhalten soll. Seine 15 Mitglieder sind vorwiegend umweltbewusste Unternehmer und Beamte, viele schon im Ruhestand. Der letzte Sprecher der besitzlosen Klassen, der damalige OGBL-Präsident, hatte sich schon vor zehn Jahren fehl am Platz gefühlt und den Rat verlassen.

Seither konzentriert sich der Rat auf seine kaum von Selbstzweifeln gestörte Mission, mit Vorschlägen zur ökologischen Modernisierung das Luxemburger Wirtschaftsmodell und den Planeten zu retten. Im Durchein­ander von Rifkin-Studie, Agenda 2030, Nationalem Nachhaltigkeitsplan, landwirtschaftlichem Entwicklungsprogramm und ähnlichem fordert der Nachhaltigkeitsrat eine zusammenhängende Einheit all dieser oft widersprüchlichen Pläne, Programme und Studien.

Sprecher des Nachhaltigkeitsrats erklärten den Parteivertretern am Dienstag 19 Leitideen, die sie vorigen Monat unter dem Titel „Comment pouvons-nous, dès aujourd’hui, construire l’avenir que nous voulons vivre demain?“ verabschiedet hatten. Es handelt sich dabei um ein Extrakt aus 592 Seiten Gutachten, Stellungnahmen, Studien und Meinungsumfragen aus den letzten zehn Jahren, die den Parteien bei der gleichen Gelegenheit überreicht wurden.

Darin wird wieder ein Zukunftsdësch und eine Beschleunigung der Verwaltungs- und Gerichtsprozeduren verlangt, ein obligatorischer Nohaltegkeetscheck von Nebenwirkungen und Folgeschäden aller politischen Entscheidungen, spätestens im Jahr 2050 eine schadstofffreie Wirtschaft, obligatorische Lebenszyklusanalysen für alle Materialien und Dienstleistungen, die Bevorzugung biologisch zersetzbarer Produkte sowie eine „strenge Regelung“ des Gebrauchs von Pflanzenschutzmitteln.

Der Nachhaltigkeitsrat wünscht sich auch, dass die Parteien sich in ihren Wahlprogrammen für klare Richtlinien aussprechen, um die Agenda 2030 der Vereinten Nationen einzuhalten, und für eine größere Kohärenz zwischen Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik dank regelmäßiger Absprachen zwischen den zuständigen Ministern, die sich auch des als Alternative zum Bruttoinlandsprodukt entwickelten Index des Wohlbefindens bedienen sollen. Dazu soll auch die staatliche Haushaltsprozedur reformiert werden. Höhere Entwicklungshilfe soll die Zahl der ab 2025 erwarteten Klimaflüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten beschränken.

Ziel der vom Nachhaltigkeitsrat, aber auch von Regierung und Parteien propagierten Nachhaltigkeit ist es, in der ökologischen Krise das nationale Wirtschaftsmodell mit möglichst marktkonformen Lösungen zu reparieren. Die Mittel dazu sind ein der Privatwirtschaft entlehnter, oft sehr bürokratischer Managerismus. Er regt zwecks nachhaltiger Produktion die Unternehmen zum Einsatz neuer, im Rifkin-Bericht beschriebener Techniken an, mit denen sie durch eine Senkung des Rohstoff- und Energieverbrauchs ihre Produktivität steigern können, Jevons-Paradox hin oder her.

Gleichzeitig will der Nachhaltigkeitsrat die Bevölkerung zwecks nachhaltiger Konsumption zum Verzichtsdenken bewegen. Er erklärt die soziale Frage zu einer „gesellschaftspolitischen Frage“ und konzentriert sie auf die Bekämpfung der Armut samt Arbeitslosigkeit und digitaler Kluft. Damit kommt er den technischen Utopien des von Wirtschaftsministerium und Handelskammer angeheuerten Zukunftsforschers Jeremy Rifkin entgegen.

Der Nachhaltigkeitsrat plädiert nicht für Nullwachstum und Industriefeindlichkeit, sondern will den Produktionsstandort begrünen, um ihn für den Exportwettkampf zu rüsten. Deshalb wünscht er sich, dass sämtliche Parteien in ihren Wahlprogrammen versprechen, „in allen Bereichen eine Politik zu verfolgen, die die Spannkraft des Landes angesichts der Zukunftsrisiken steigert und ein ‚Genügsamkeitsverhalten‘ der Bürger fördert, um die Spirale des maßlosen Wachstums zu bremsen“.

Zu den 19 Leitideen, die der Nachhaltigkeitsrat in den Wahlprogrammen sehen möchte, gehört ganz liberal die Beratung der Vermögensbesitzer, um die Kapitalströme in Richtung Nachhaltigkeit zu lenken. Die Bildungspolitik soll der Nachhaltigkeit und den Bedürfnissen des Luxemburger Arbeitsmarkts, das heißt der Unternehmen, gerecht werden. Die Altersversicherung soll überdacht werden, um finanzierbar, gerecht, solidarisch und transparent zu werden. Die Dosierung dieser Kriterien hatte der Rat in seinem Gutachten vom Oktober 2013 festgelegt: eine Senkung der Rentenansprüche von 55 auf 24 Prozent der Lohnmasse und eine Verlängerung der Arbeitszeit.

Doch das Interesse der am Dienstag eingeladenen Parteien war mäßig. Marco Schank für die CSV war der einzige Abgeordnete, der erschienen war. Die Grünen vertrat Kopräsidentin Françoise Folmer, die LSAP hatte zwei Parteifunktionärinnen geschickt, die DP war abwesend. Für die Linke waren die Sprecher Carole Thoma und Gary Diderich gekommen, für die ADR Präsident Jean Schoos.

Die Parteien maßen der Veranstaltung keine übertriebene Bedeutung zu. Denn sie gebrauchen die in der deutschen Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts entstandene und 1987 vom Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen popularsierte Vokabel „Nachhaltigkeit“ in ihren Wahlprogrammen seit Jahren inflationär: Im Wahlprogramm der DP tauchte 2013 die Nachhaltigkeit 67 Mal auf, im Programm der Grünen 45 Mal, die LSAP hatte 2009 einen Rekord mit 71 Mal erreicht.

Dass alle Parteien in ihren Wahlprogrammen sinnentleert Nachhaltigkeit versprechen, zeigt, wie großartig sich die Idee anbietet, um 40 Jahre nach der Stahltripartite den Mythos einer großen Volksfamilie neu zu erschaffen, einen neuen klassenübergreifenden Korporatismus zu schmieden, wenn es angesichts der ökologischen Bedrohung heißt, den Gürtel enger zu schnallen, Verzicht und Opfer zu bringen, um nicht mehr den Stahlstandort, sondern mit einem neuen Regulationsmodell den Produktions- und Dienstleistungsstandort einschließlich des Planeten zu retten.

Das mäßige Interesse der Parteien hat aber auch mit ihrer Befürchtung zu tun, dass mit den technokratischen Heilsversprechen des Nachhaltigkeitsrats keine Wahlen zu gewinnen sind. Um mit nationalem Korporatismus die Volksfamilie zusammenzuschmieden, schüren sie lieber weiter malthusianistische Panik.

Die von der CSV, den Grünen und Umweltschützern geführte und von den meisten anderen Parteien mit vorsichtigerer Wortwahl unterstützte Wachstumsdebatte läuft deshalb am Ende darauf hinaus, vor der Schädlichkeit der Fremden für die Spannkraft des Landes zu warnen: die Schädlichkeit der Einwanderer, die den für die Luxemburger Wälder anscheinend verheerenden 700 000- oder gar 1,2-Millionen-Einwohnerstaat auffüllen, die Schädlichkeit der Grenzpendler, die den Verkehrsinfarkt auf den Autobahnen verursachen, die Luxemburger Luft mit ihren Auspuffgasen verpesten und für ihre Beitragszahlungen Luxemburger Sozialleistungen beanspruchen.

Romain Hilgert
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