Mit der Schließung der Schmelzen begann die Stadtflucht. Zählte Esch/Alzette 1970 noch rund 27 500 Einwohner/innen, waren es 1990 nur noch 24 000. Wenige Jahre später setzte der wirtschaftliche Wiederaufschwung in Luxemburg ein. Vor allem portugiesische und kapverdische Gastarbeiter/innen ließen und lassen sich im strukturschwachen Süden nieder. Seit der baulichen Erschließung der ehemaligen Schrebergartenkolonie Nonnewisen und der schrittweisen Ansiedlung der Uni auf der Industriebrache Belval wächst Esch/Alzette wieder rasant. Doch die Bevölkerung der zweitgrößten Stadt Luxemburgs gehört noch immer zu den ärmsten des Landes. Beim sozioökonomischen Index von 2017 belegte sie wegen hoher Arbeitslosigkeit, eines niedrigen Medianeinkommens sowie überdurchschnittlich vieler RMG-Empfänger/innen und Beschäftigter aus Niedriglohnsektoren den zweitletzten Platz. Deshalb illustrieren Medien ihre Berichte über Armut in Luxemburg manchmal mit einem Foto der Alzettestraße.
Porte d'entrée vu Lëtzebuerg Viele Escher/innen stört es inzwischen, wenn negativ über ihre Stadt berichtet wird. Insbesondere gegen das vermeintliche „Esch-Bashing“ in den (sozialen) Medien (oder in Reiseführern) hat sich eine Front gebildet. Denn in Esch/Alzette leben längst nicht nur Arbeiter/innen und arme Menschen. Mit Brill und Al Esch liegen zwei der drei größten und zugleich ärmsten Stadtteile zwar mitten im Zentrum, doch die meisten Wähler wohnen woanders: In den Vierteln Dellhéicht, Wobrécken und Fettmeth, die im Sozialbericht der Uni Luxemburg von 2017 als „reichere, sozial stabilere Oberschichtviertel“ ausgewiesen wurden, und in den rund zehn „heterogenen (oberen) Mittelschichtvierteln“, die vor allem im nördlicheren Teil des Stadtgebiets angesiedelt sind. Die Diskrepanz zwischen den Einkommen in den unterschiedlichen Vierteln bleibe auch im neuen, ausführlicheren Observatoire social, der im kommenden Juni vorgestellt wird, unverändert, erklärt Sozialschöffe Christian Weis (CSV) auf Land-Nachfrage. Neben dem sehr hohen Anteil an Nicht-Luxemburger/innen und der vergleichsweise hohen Anzahl an Apartments zeichnet sich das Stadtzentrum auch durch eine niedrige Wohndauer aus. Deshalb bezeichnen die Verfasser des Sozialberichts die Viertel Brill und Al Esch als „Durchgangsstation“, Schöffe Weis spricht lapidar von der „Porte d'entrée vu Lëtzebuerg“.
Um das Image der Universitäts- und zukünftigen europäischen Kulturhauptstadt nachhaltig aufzuwerten, reichen Werbe- und Marketingkampagnen alleine nicht aus. Der Schöffenrat aus CSV, DP und Grüne, der seit den Gemeindewahlen 2017 die Politik der Stadt Esch bestimmt, hat sich zum Ziel gesetzt, die „Mixité sociale“ zu erhöhen. In der Praxis bedeutet das für den Schöffenrat, die armen Haushalte so weit wie möglich aus der Stadt fernzuhalten und mehr kapitalstarke Familien anzuziehen. Einen Hehl haben die Verantwortlichen der Dreierkoalition aus ihrer Absicht, Esch zu gentrifizieren, nie gemacht. Vermutlich hat sie sogar in nicht unerheblichem Maß zu ihrem Wahlerfolg beigetragen. Um sein Ziel zu erreichen, hat der Schöffenrat den neuen allgemeinen Bebauungsplan (PAG) genutzt, der am 5. Februar von den Mehrheitsparteien im Gemeinderat verabschiedet wurde und zurzeit vom Innenministerium auf seine Rechtmäßigkeit geprüft wird. Wie viele Beschwerden gegen den PAG in den vergangenen Wochen beim Innenministerium eingegangen sind, ist noch unklar. Die zuständige Ressortministerin Taina Bofferding (LSAP) bestätigt auf Land-Nachfrage, dass sie illegalen Bestimmungen in PAG und PAP nicht zustimmen, bzw. nur Teile davon genehmigen werde, falls der Gemeinderat kein Zusatzvotum vornehmen wolle. Erst müssten die Dokumente aber von der Commission d'aménagement begutachtet werden.
Die anfangs im PAG enthaltenen restriktiven Bestimmungen der Stadt Esch zur Gründung von Wohngemeinschaften sind in den vergangenen Monaten auf Widerstand gestoßen. Innenministerin Bofferding und Wohnungsbauminister Henri Kox (déi gréng) hatten im Juni 2020 in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage von zwei LSAP-Abgeordneten darauf hingewiesen, dass der PAG nicht das geeignete Instrument sei, um das Zusammenleben der Bürger zu regeln. Auf öffentlichen Druck haben die Verantwortlichen den umstrittenen Begriff des Lien affectif als Voraussetzung für gemeinschaftliches Wohnen vor der Abstimmung aus dem PAG entfernt.
Haushaltsgemeinschaft Stattdessen hat der Schöffenrat nun den Begriff der Haushaltsgemeinschaft (Communauté domestique) eingesetzt. Dieser Ausdruck stammt aus dem RMG-Gesetz und wird dort verwendet, um mutmaßlichem Sozialhilfe-Missbrauch vorzubeugen. In einer Haushaltsgemeinschaft müssen alle Personen über ein gemeinsames Budget verfügen. Da ein Lien affectif oder ein persönliches Vertrauensverhältnis häufig die Voraussetzung dafür sind, dass Mitbewohner/innen ihre Einkommen zusammenlegen, schließt die Haushaltsgemeinschaft de facto aus, dass fremde Personen, die sich kein gemeinsames Budget teilen wollen, zusammenwohnen können. Die einzigen Wohnformen, die in Esch/Alzette nicht unter die Haushaltsgemeinschaft fallen, sind Wohngemeinschaften (WG) und möblierte Zimmer, die dafür aber strengen Regeln und Bestimmungen unterliegen.
So müssen die Mitglieder einer WG laut dem zum PAG gehörenden PAP Quartiers existants (PAP QE) einen gemeinsamen Mietvertrag (bail commun) unterzeichnen. Diese Regelung hat der grüne Wohnungsbauminister Henri Kox auch in den Entwurf für das neue Mietgesetz geschrieben. Die Einschränkung stößt inzwischen nicht nur beim Mieterschutzbund auf heftige Kritik. Die Einrichtung möblierter Zimmer wird in Esch insbesondere durch strenge Größen- und Sicherheitsbestimmungen im Bautenreglement erschwert. Das vorrangige Ziel dieser Maßnahme sei es, das lukrative Geschäft mit möblierten Zimmern zu unterbinden, wie es etwa von der Immobilienagentur Altea mit ihrer Plattform furnished.lu im großen Stil betrieben wird, erklärt Stadtarchitekt Luc Everling gegenüber dem Land. Laut PAP QE muss künftig beim Neu- oder Umbau von Mehrfamilienhäusern mindestens eine Wohneinheit entweder mehr als 120 Quadratmeter groß oder ein Duplex sein; gleichzeitig darf höchstens ein Viertel aller Wohneinheiten kleiner als 45 Quadratmeter sein. Mit solchen Vorgaben solle verhindert werden, dass die Wohnungspreise durch die Zerstückelung von Immobilien künstlich in die Höhe getrieben werden, erläutert Everling. Esch wolle damit sicherstellen, dass Häuser und Apartments für Käufer/innen bezahlbar bleiben. Mit ihrem neuen PAG wolle die Stadt ihren eigenen Kampf gegen die hohen Wohnungspreise führen, meint der Stadtarchitekt. Denn dass das neue Mietgesetz und seine vermeintlich striktere Anwendung der Bestimmung, die Miete dürfe fünf Prozent des investierten Kapitals nicht übersteigen, die Immobilienpreise stabilisieren oder senken wird, daran glauben die kommunalen Verantwortlichen aus Esch nicht. Eigentümer/innen würden immer einen Weg finden, die Einhaltung der Fünf-Prozent-Regelung zu umgehen, sagt Everling.
Mit ihren Vorgaben erschwert die Stadt Esch aber erheblich die Schaffung kleiner Wohnungen und Zimmer, die für Studierende, Zeitarbeiter/innen und Niedriglohnempfänger/innen noch erschwinglich und gerade deswegen sehr gefragt sind. Dadurch riskiert das Geschäft mit den möblierten Zimmern sich nun immer mehr in die französische Grenzregion zu verlagern (vgl. d'Land vom 12. Februar 2021).
Grüne Häuser In die gleiche Richtung zielt die Bestimmung, dass in rund 4 000 im PAP QE geschützten und im grafischen Teil dezidiert in der Farbe grün ausgewiesenen Einfamilienhäusern kein Logement intégré (eine in das Haus integrierte Mietwohnung, die nicht verkauft werden kann) eingerichtet werden darf. Laut Everling handelt es sich bei den grün eingefärbten Häusern um Immobilien, die als Einfamilienhäuser genehmigt und in letzter Zeit auch als solche genutzt wurden. Nach welchen Kriterien sie ausgesucht wurden, ist nicht eindeutig ersichtlich, denn manche Einfamilienhäuser – zum Beispiel solche, die in dichter bebauten Straßen stehen – wurden bei der Klassierung ausgespart. Kritiker/innen weisen darauf hin, dass das Verbot, Logements intégrés in den geschützten Häusern einzurichten, gesetzeswidrig sei. In der Gemeinderatssitzung vom 5. Februar rechtfertigte Everling die Regelung damit, dass 4 000 integrierte Wohnungen mit 10 000 zusätzlichen Einwohner/innen gleichzusetzen seien, was eine erhebliche Bevölkerungsverdichtung zur Folge haben würde. Wie der grüne Bautenschöffe Martin Kox gegenüber dem Land erklärt, könnte dieser potenzielle Zuwachs die Infrastruktur (Schulen, Betreuungsstrukturen, Kanalisation) der Stadt zu sehr belasten. Gleichzeitig erlaubt es der PAP QE den Eigentümern der 4 000 grünen Einfamilienhäuser aber, Studierenden, Geflüchteten oder anderen Personen vorübergehend ein Studenten- oder Gästezimmer zur Verfügung zu stellen, vorausgesetzt das Zimmer ist mindestens 20 Quadratmeter groß und der Besitzer wohnt selbst in dem Haus. Ob viele Studierende, aber auch Eigentümer/innen zu dieser intimen Form des Miteinanders bereit sein werden, ist zu bezweifeln.
Ferner sind die Texte im PAP QE teilweise inkohärent, manche Artikel stimmen nur bedingt mit den Definitionen der verschiedenen Wohntypen (Haushaltsgemeinschaft, Studentenzimmer, Gästezimmer, möbliertes Zimmer) im Anhang überein und lassen den zuständigen Gemeindediensten viel Raum für Interpretation. Nicht zuletzt stellt sich noch immer die Frage, ob es überhaupt rechtens ist, unterschiedliche Formen des menschlichen Zusammenlebens über urbanistische Texte zu definieren und zu regeln.
Ärmere Haushalte will die Stadt Esch künftig vor allem auf den subventionierten Wohnungsmarkt von SNHBM und Fonds du Logement drainieren. Die 2017 von der LSAP ins Spiel gebrachte und von der politischen Mehrheit im Koalitionsvertrag übernommene Idee zur Gründung einer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft hat der Schöffenrat inzwischen verworfen, nachdem eine dem Land vorliegende interne Studie die damit verbundenen Schwierigkeiten aufgezeigt hat. Die Gemeinde selbst verfügt über 328 Wohnungen, von denen laut Studie um die 30 derzeit nicht belegt sind, weil sie in schlechtem Zustand sind oder gerade renoviert werden. Hinzu kommen zwölf Wohnungen in sozialer Mietverwaltung. Auf der Warteliste für eine Gemeindewohnung standen Mitte 2019 rund 250 Haushalte. Die 2012 vom Gemeinderat verabschiedete Gebühr auf leerstehende Wohnungen wurde noch immer nicht erhoben.
Personalmangel Die Verfasser der Studie zur kommunalen Wohnungsbaugesellschaft stellen Personalmangel in der Verwaltung fest und schlagen daher vor, die bereits existierenden kommunalen Dienste (Service du logement, Division de l'architecture, Office social) aufzustocken, um den Wohnungsbestand besser verwalten zu können. Sowohl der Schöffenrat als auch déi Lénk teilen diese Ansicht. Die größte Oppositionspartei LSAP schlägt hingegen die Gründung einer externen Kooperative zur Verwaltung von Gemeindewohnungen nach dem Modell der Stadt Wien vor, wie Rätin Vera Spautz gegenüber dem Land darlegt. Martin Kox weist darauf hin, dass das Budget der Gemeinden in den kommenden Jahren wegen Kürzungen infolge der Coronakrise schrumpfen wird. Andererseits sehe der von seinem jüngeren Bruder Henri Kox und der früheren Escher Gemeinderätin Taina Bofferding vorgelegte Pacte Logement 2.0 staatliche Subventionen für zusätzliches Personal im Bereich der Wohnbauberatung vor.
Die Erweiterung der Personaldecke (unter welcher Form auch immer) ist umso wichtiger, weil die Stadt Esch in den kommenden Jahren zusätzliche Häuser und Wohnungen auf dem Gelände des Neubauprojekts Portal Eent im Stadtteil Uecht und im vom Bauherrn Eric Lux geplanten Öko-Viertel Rout Lëns erwerben will. Mit der Erschließung der Industriebrache Arbed Esch-Schifflingen wird die Bevölkerung von Esch/Alzette in den nächsten 20 Jahren voraussichtlich auf 55 000 Einwohner anwachsen.