1962, Nowotscherkassk UdSSR. Während die Inflation Fleisch- und Milchproduktpreise ins Unermessliche treibt, versucht Ludmila, Hauptprotagonistin von Dear Comrades!, Genossen und Genossinnen von den langfristigen Vorteilen des Stalinismus zu überzeugen und gleichzeitig irgendwie auch was zu Beißen zu organisieren. Ludmila ist Teil des Systems und tonangebenden Apparatschiks. Manche Schw... Genoss/innen sind gleich, aber einige Genoss/innen sind gleicher. In einer frühen Schlüsselszene übergeht sie, ohne mit der Schulter zu zucken, und auf Einladung der Frau im Einkaufsladen eine Schlange wartender und hungriger Arbeiter/innen. Bitte sehr, hier noch ein Stück Speck und ein paar Schachteln Zigaretten. Gern geschehen. Auf die Frage, ob die Inflationskrise Konsequenzen für die Lebensmittelversorgung haben wird, entgegnet Ludmila fest entschlossen, dass in der Sowjetunion niemand verhungern kann. Bitteschön, gern geschehen.
So schwarz-weiß ist es jedoch nicht. Zu Hause angekommen, ist Großvater wieder einmal in seine Kriegsuniform geschlüpft und rotzt auf alles und jeden, was/wer nach dem Zar das Sagen hatte. Die Tochter sympathisiert mit den Arbeiter/innen, die vorhaben, mit einem Marsch gegen die Verhältnisse und für einen Lohnausgleich zu protestieren. Chruschtschow bekommt von diesem Aufmarsch Wind und ist Не смешно (not amused!). Resultat: 26 Tote und fast 100 Schwerverletzte.
Regisseur Andrei Kontschalowski ist seit vielen Jahren Liebling der Filmpresse. Und die Rezeption seines neuen Films Dear Comrades! hat dies nach seiner Weltpremiere in Venedig letztes Jahr nur bestätigt. Kontschlalowskis Verhältnis zur Mostra ist ein sehr altes. Das Lido besucht er 1962 das erste Mal mit Andrei Tarkowskis Debütfilm Iwans Kindheit, an dessen Drehbuch er mitgearbeitet hatte. 1962 war das Jahr des Massakers in Nowotscherkassk. Schließt Andrei Kontschalowski nach einer Jahrzehnte andauernden Karriere ein persönliches Kapitel ab? Dear Comrades! – ein Titel, der ironisch gelesen werden darf – rechnet ab mit dem politisch-gesellschaftlichen Diktat in Kontschalowskis alter Heimat. Im aktuell sehr modischen Schwarz-Weiß, im 4:3-Format gedreht (seit Pawel Pawlikowskis letzten beiden Filmen scheinen monochromatische Bilder ein Muss, wenn es um verfilmtes Leben und Leid im Kommunismus geht), lässt Regisseur Kontschalowski jede Facette des korrupten Systems Revue passieren: wütende Arbeiter/innen und nervöse, mit der Situation überforderte Apparatschiks.
Die Rekonstruktion eines verschwiegenen Verbrechens in einer paranoiden und verarmten frühen Sowjetunion ist eine, die das Publikum nicht aufgedeckt haben muss. Der Versuch, dies fast nebensächlich zu tun, spricht indes Bände. Kontschalowskis Regie lässt fast darauf deuten, als hätte in jener Zeit tagtäglich ein solcher Aufruhrversuch zerschmettert werden können. Dennoch bleiben die gefilmten Bilder trotz Ironie und Gräuel einen Hauch zu glänzend und poliert.
Was Andrei Kontschalowski jedoch am meisten interessiert ist die Reise seiner Protagonistin Ludmila. Die überzeugte Stalinistin vermisst nach dem Massaker ihre 18-jährige Tochter, die für tot erklärt wird, und macht sich auf die Suche nach ihr. Aus unerklärlichen Gründen hilft ihr dabei ein charismatischer KGB-Agent. Die im Plot fehlende Motivation könnte mensch durchaus als Fehler betrachten, sie unterstreicht jedoch den Aspekt der Vorsicht und potenziellen Paranoia, die die Ludmila-Figur zu durchleben hat. Was jedoch während des letzten Drittels dieser Suche nach der Tochter und mit der inneren/politischen Transformation von Ludmila passiert, grenzt an dramaturgischer Bequemlichkeit: Wenn eine Stunde lang die Härten des Regimes und seiner Handlanger durchdekliniert werden, können diese nicht aus narrativen Gründen plötzlich aufgeweicht werden.
An dieser Stelle soll kurz auf die Dau-Filmreihe hingewiesen werden, die bei der letztjährigen Berlinale für ordentliches Chaos gesorgt hat und die mensch im Netz schauen kann. An bitterböser, eiskalter Konsequenz im Hinblick auf ein porträtiertes Leben in der UdSSR ist Dau von unter anderem Ilja Chrschanowski nicht zu überbieten. Dear Comrades! verblasst im direkten Vergleich. Der neue Film von Andrei Kontschalowski lohnt sich trotzdem wegen seiner komplexen zentralen Figur, die mit Julia Vysotskaya als zunächst linientreues Parteimitglied Ludmila sehr stark besetzt ist und die den Film ab der ersten Sekunde dominiert und zusammenhällt.