Die Abgeordnetenkammer ist schon durch ihr Disneyland-Dekor mit goldenen Kronleuchtern, Säulen aus Marmor-Imitat, falschen Kerzenhaltern, drapierten Plüschvorhängen und schwerem Teppichboden bestens zur Aufführung des Märchens von Dornröschen geeignet. Doch als am Dienstag Premierminister Xavier Bettel (DP) seine Erklärung zur Lage der Nation vorzulesen begann und die Tontechnik wieder einmal ausfiel, schien sie in diesen stummen Märchenschlaf zu versinken, nicht nur der Premier und seine Minister, sondern „da fing alles an einzuschlafen, die Pferde in den Ställen, die Tauben auf dem Dach, die Hunde im Hof, die Fliegen an den Wänden, ja das Feuer, das auf dem Heerde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch ließ den Küchenjungen los, den er an den Haaren ziehen wollte, und die Magd ließ das Huhn fallen, das sie rupfte und schlief“ (Brüder Grimm, Kinder- und Haus-Märchen, 1812, Bd. 1, S. 227). Wie im Märchen räkelten sich die Minister und Abgeordnete in den Vorzimmersesseln, spielten gelangweilt auf ihren Handys und warteten gemütlich auf ein Ende der Sprachlosigkeit.
Nur der Premierminister hatte vor Wut und Enttäuschung kurz Tränen in den Augen. Dabei war es ein wundersamer Zufall, dass gerade diese Gemütlichkeit auch der Tenor seiner Erklärung war, die er am Mittwoch noch einmal für die nicht allzu vielen Wähler verlas, die frühmorgens die Muße fanden, ihm auf Chamber TV zuzuhören. Die liberale Koalition scheut keine Unannehmlichkeiten, um sich in ihrem plebiszitären Verlangen direkt an die Wähler zu richten, „ungefiltert“, wie Kammerpräsident Mars Di Bartolomeo (LSAP) das nannte, ohne kritische Vermittlung durch eine Presse, die US-Präsident Donald Trump inzwischen „enemy of the people“ nennt.
Diese neue Gemütlichkeit, die auf der Titelseite von Xavier Bettels Erklärung „Liewensqualitéit fir Lëtzebuerg“ heißt, hat eine bewegte Geschichte. Schließlich waren die schwungvollen jungen Männer von DP, LSAP und Grünen vor dreieinhalb Jahren herangestürmt, um alten Bequemlichkeiten den Kampf anzusagen, energisch die Fenster des staubigen CSV-Staats aufzureißen, energiegeladen alles neu zu machen, das Land im Laufschritt zu modernisieren und auf Anraten ihrer Freunde, der Unternehmensberater, zu liberalisieren.
In seiner ersten Erklärung zur Lage der Nation hatte der Premier dann 2014 angekündigt, dass die Euphorie des Wahlsiegs zu Ende sei und „das, was seit einigen Jahren als Krise bezeichnet wird, in der Zwischenzeit die neue Wirklichkeit ist“. Denn in ihrem Koalitionsabkommen hatte die Regierung einen ausgeglichenen Staatshaushalt zum übergeordneten Ziel der Legislaturperiode erklärt, um so unter Berufung auf den europäischen Stabilitätspakt die ökonomische Disziplinierung durchzusetzen, die der 2013 darüber gestürzten CSV/LSAP-Regierung nicht richtig gelingen wollte.
Aber die Regierungsmehrheit hatte sich beim politischen Preis, den sie für diese ökonomische Disziplinierung zu zahlen bereit war, verrechnet. Statt den Dank der Nation zu ernten, stürzte sie mit ihrem „Zukunftspak“ in den Meinungsumfragen dramatisch ab. Nach dem Fiasko der Europawahlen zeichnete sich im Mai 2015 schon die Katastrophe des Referendums ab, so dass der stets so liebesbedürftige Premier in seiner Erklärung zur Lage der Nation Hals über Kopf aus der tristen Gegenwart floh und manisch begann, eine schönere Zukunft voller Nation Branding und Transparenz zu beschwören.
Damit kam die Regierung allerdings nur bei den Aktiengesellschaften und Besserverdienern durch, die lediglich eine Minderheit der Wählerschaft darstellen. Arg gebeutelt setzte sie deshalb zu einem politischen Befreiungsschlag in der Mitte der Legislaturperiode an. Im Ton des großen Sozialdemagogen Jean-Claude Juncker (CSV) entdeckte Xavier Bettel mit seiner Erklärung zur Lage der Nation vergangenes Jahr die „Einzelschicksale“ und „Geschichten hinter der Geschichte“ der subalternen Klassen.
Bei über vier Prozent Wirtschaftswachstum die Krise die neue Wirklichkeit zu nennen, um nichts abgeben zu müssen, war 2014 ein netter Versuch gewesen, aber er schlug fehl. Die Regierung ersetzte also den in ihrem Koalitionsabkommen beurkundeten Überschuss der Staatsfinanzen von 0,5 Prozent durch ein Defizit von 0,5 Prozent, und versuchte, sich mit einer Steuerreform in die Herzen der Wähler einzukaufen.
Selbst der vormals als Direktor der Handelskammer als Bußprediger und Sparapostel geübte Finanzminister Pierre Gramegna (DP) bestätigte am Mittwoch, dass es dank einer „guten Konjunktur“ und der „richtigen strukturellen Maßnahmen“ der Wirtschaft ausgezeichnet gehe. „Die Fondsindustrie schreibt in diesen Monaten immer neue Rekorde“ (S. 3), das Vertrauen der Verbraucher sei das höchste, seit die Zentralbank Meinungsumfragen in Auftrag gebe. Trotz eines Verlustes von einer Milliarde Euro Mehrwertsteuereinnahmen aus dem elektronischen Handel seien die Zahlen heute besser als jene, die die Regierung 2013 vorgefunden habe. Es gebe „absolut keinen Grund, um Schwarzmalerei zu betreiben“ meinte er in Vorwegnahme der zu erwartenden CSV-Vorwürfe (S. 8). Mit der ihm eigenen Verwegenheit setzte sein Kollege Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) sogar noch eins drauf und traute sich, von „einer Rentenmauer, die schmilzt“ zu reden, „die von hier aus kaum noch zu sehen ist“.
Selbst der Conseil national des finances publiques musste vergangene Woche in seinem jüngsten Gutachten zu den Staatsfinanzen säuerlich einräumen, dass die bisherigen Prognosen übertroffen werden und das vom europäischen Stabilitätspakt verlangte mittelfristige Haushaltsziel nach jeder der immerhin fünf verschiedenen Berechnungsmethoden die Haushaltsregeln der Euro-Zone „a priori respektiert“ (S. 5). Auch CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler konnte am Mittwoch nur im Predigerton den Teufel an die Wand malen, verstummte aber schon, als er im Zusammenhang mit der Rentenversicherung aufgefordert wurde, die „drei oder vier Schrauben, an denen gedreht werden kann“, auch zu nennen. Denn zum Leidwesen der Opposition konnten sich DP, LSAP und Grüne nach den Zeiten der ökonomischen Disziplinierung Spielraum zur ökonomischen Befriedung schaffen, so dass den Konservativen nur die undankbare Aufgabe bleibt, von der Regieurng größere Sparanstrengungen zu verlangen.
Dagegen stellte der Premierminister die ökonomische Befriedung am Mittwoch unter das Motto „Luxemburg geht es gut, wenn es den Menschen in Luxemburg gut geht“, das er gleich zehnmal in seiner Erklärung wiederholte (S. 8, 15, 25, 29, 34, 39, 43, 45, 50, 54). Denn zehn Jahre nach der großen Finanz- und Wirtschaftskrise haben Brexit, Trump und Le Pen gezeigt, dass viele der als Produzenten und Konsumenten nutzlos gewordenen Wähler nicht mehr bereit sind, ihr Leben widerstandslos der internationalen Wettbewerbsfähigkeit als „Globalisierungsverlierer“ zu opfern, und ihr Protest deshalb „ernst genommen“ werden muss, wie es in den Sonntagsreden heißt. Auch wenn der Premier seine Erklärung sicherheitshalber mit dem historischen Exkurs begann, dass der Londoner Vertrag von 1867 den „Grundstein legte für das Land, in dem wir heute leben“, weil durch die Schleifung der Festung „die Mauern verschwanden und wir ein Land wurden, das offen für den Handel“ wurde (S.2). Wenn Luxemburg also schon vor 150 Jahren den Weg in eine glückliche Globalisierung beschlossen zu haben schien, kann heute kaum jemand etwas daran aussetzen.
Xavier Bettels litaneienhaftes „Luxemburg geht es gut, wenn es den Menschen in Luxemburg gut geht“ ist die Beteuerung der liberalen Koalition, dass AAA-Ranking, Schuldenbremse, Rifkin und Space Mining ihr doch nicht alles sind. Und Luxemburg hat in solchem Maße von der Liberalisierung der Kapitalströme profitiert, dass die Koalition dafür sorgen kann, dass immer auch etwas für ihre Wähler, die Mittelschichten und qualifizierten Arbeiter abfällt – etwa mittels der Steuerreform oder der Erhöhung der Elternurlaubsentschädigung – ja, selbst für die Armen, die der Premier als künftige für ihr Schicksal selbst verantwortliche Revis-Bezieher in einem Aufguss mit den Behinderten nannte.
Bei solchen und ähnlichen Ideen war wieder einmal der grüne Nachhaltigkeits- und Infrastrukturminister François Bausch am fleißigsten, der dem Staatsminister seitenweise Textbausteine zur Landesplanung und Mobilität zugesteckt hatte: Die Verkehrsstaus sollen durch Investitionen in Straßen und Schienen, durch neue Haltestellen und neue Zugmaschinen, durch die Förderung der Heimarbeit und in Schichtarbeit genutzte Bürogebäude in Grenzgebieten verringert werden.
Noch vor den Sommerferien soll die Sekundarschulreform gestimmt werden, ließ Erziehungsminiser Claude Meisch (DP) mitteilen. In den klassischen Lyzeen soll eine Sektion I geschaffen werden, um „Schüler gezielt auf ein Studium im digitalen Bereich vorzubereiten“. Nächstes Jahr sollen 81 Millionen Euro in die Förderung von Kleinkindern investiert werden, und den Kindern, die Unterstützung brauchen, kündigte der Premierminister martialisch „eine regelrechte Offensive von flankierenden Maßnahmen“ an (S. 25). In den nächsten Wochen werde zudem der Reformentwurf für die Éducation différenciée vorgestellt. Zur besseren Vereinbarung von Arbeit und Familie sei der Elternurlaub und der Urlaub aus familiären Ursachen reformiert worden, „der nächste Schritt wird sein, dass wir über eine flexiblere Aufteilung der Arbeitszeit nachdenken“ (S. 28).
Was die Regierung bisher im Kampf gegen die Wohnungsnot und die hohen Immobilienpreise unternommen hat, nannte der Premier mit einer Jean-Claude Juncker würdigen Katachrese „bloß den Anfang und den langen und steinigen Weg, um Luft in den stickigen Markt zu bekommen“ (S. 32). Wie es weitergehen soll, hatte ihm Wohnungsbauminister Marc Hansen (DP) aber auch nicht notieren können, doch er beteuerte, dass „man das Problem nicht isoliert angehen und bloß darauf setzen kann, dass Bauland frei wird“ (S. 32). Was auch eine Entwarnung an die einer DP oft freundschaftlich verbundenen Grundstücksbesitzer ist.
Für nächstes Jahr kündigte der Premier vage „ein neues System über das geistige Eigentum“ an, das heißt die steuerliche Begünstigung von Urheberrechten. Nach der angekündigten Abschaffung der allzu großzügigen Patent-Boxen war schon mit der dieses Jahr in Kraft getretenen Steuerreform ein Ersatz versprochen worden.
Nach dem Versuch der ökonomischen Befriedung seit vergangenem Jahr bot der Premier diese Woche die politische Befriedung an. Die möglich geworden scheint, weil der Rückgang der Arbeitslosenrate und die Bewertung der Staatsfinanzen durch internationale Institutionen und Rating-Agenturen zeigten, „dass wir uns in die richtige Richtung bewegen“ und „mit Zuversicht nach vorne schauen können“ (S. 7).
Die politische Befriedung ist Synonym für die Lebensqualität, die der Premier ebenfalls gleich zehnmal in seiner Erklärung beschwor (S. 1, 2, 10, 32, 48, 50, 53). „Lebensqualität erhalten und Lebensqualität verbessern, ist eine unserer Hauptaufgaben in den nächsten Jahren“ (S. 32). In einer liberal umweltschützerischen Lesart gilt Lebensqualität als „immaterieller Wert“, die Sorge jener, die materieller Sorgen enthoben sind und weniger das brauchen, was Gewerkschafter früher „sozialer Fortschritt“ oder „soziale Gerechtigkeit“ nannten. Die es zumindest außerhalb des Arbeitsmarkts und des Arbeitsplatzes gemütlich haben sollen.
Die politische Befriedung läuft darauf hinaus, dass Streitigkeiten wie die Trennung von Kirchen und Staat oder die Verfassungsreform nun so rasch wie der Zukunftspak zu den Akten gelegt werden sollen, und die schwungvollen Männer die Botschaft jener Wähler verstanden haben, denen allzu viel Hektik Angst macht. Im Zuge der neuen Gemütlichkeit kehrte Xavier Bettel sogar von der bisherigen Lesart ab, dass die Regierung bei ihrem Antritt blankes Chaos und leere Schubladen vorgefunden habe, und gestand der CSV versöhnlich zu, dass „die Regierung zum Teil einen vorgezeichneten Weg ging. Die Weichen in der Wirtschaft und auch in der Bildungspolitik wurden auch schon in der Vergangenheit richtig gestellt“ (S. 53). Das muss der gemütliche Herr Wiseler als heimlichen Wunsch, so zu werden wie er, verstanden haben, wenn nicht als ein frühzeitiges Koalitionsangebot.