Seit vier Jahren stagniert das Mittlere Einkommen, meldete das Statec vergangenen Monat in seinem Rapport travail et cohésion sociale (S. 96). Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) erklärte am Montag in den Kirchberger Messehallen bei der Vorstellung von The 3rd Industrial Revolution Strategy Study for the Grand-Duchy of Luxembourg vor Unternehmern, Politikern und Beamten, bisher habe in Luxemburg eine „gewisse soziale Ruhe“ geherrscht, weil das Wirtschaftswachstum auch den Lohnabhängigen „etwas gebracht hatte und sie dafür viel in Kauf genommen hatten“. Doch das mehr als zweiprozentige Wachstum der Nettokaufkraft in den Jahren vor der Krise sei zu Ende. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise nehme die Nettokaufkraft bloß noch um 0,4 bis 0,6 Prozent zu.
Die Frage lautet also, wie unter diesen veränderten Bedingungen die soziale Ruhe gewahrt werden kann. Es sei „schwer, den Leuten zu sagen, dass sie ein wenig verzichten sollen“, klagte der Wirtschaftsminister. Er erinnerte an das „lebensgroße Experiment“ des Zukunftspak, dessen Steuererhöhungen und Einsparungen zu einem „Sympathieverlust für die Regierung“ geführt hätten.
In den neoliberalen Achtzigerjahren begann in den Wahlprogrammen die Mobilisierung zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit das Versprechen von sozialem Fortschritt abzulösen. Seither kauften sich die Regierungen bei „ausländischen Experten“ wissenschaftliche Rechtfertigungen ihrer umkämpften makroökonomischen Entscheidungen. Doch nun kommt zur stagnierenden Kaufkraft der vergangenen Jahre auch noch eine politische Legitimationskrise hinzu. Nach der auf die Steuerzahler abgewälzten Bankenkrise fallen immer mehr Menschen vom Glauben ab an den Segen der entfesselten Finanz- und Arbeitsmärkte, des globalisierten Handels und des abgespeckten Sozialstaats. In Ländern mit drastischen Kaufkrafteinbußen führte dies bereits zu Wählerrevolten, deren bisherige Höhepunkte die Wahlen für Brexit in Großbritannien und Donald Trump in den USA waren (d’Land, 11.11.2016).
So scheint sich Wirtschaftsminister Etienne Schneider bewusst geworden zu sein, dass nicht bloß ein weiterer Technokratenbericht, sondern eine neue Ideologie nötig ist, um auch mittel- und langfristig die soziale Ruhe zu behalten. Denn Ideologie stiftet einen Sinn, der die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse rechtfertigt: Indem sie ihre Funktion in diesen Machtverhältnissen vertuscht, erlaubt sie dem Einzelnen, sich eine Rolle in schöneren als den bestehenden Verhältnissen zu phantasieren.
Statt sich, wie sein Vorgänger Jeannot Krecké, noch einmal an einen grauen Akademiker vom Schlag Lionel Fontagnés zu wenden, um Verzichtsdenken mit dem Zauberwort der Nachhaltigkeit zu rechtfertigen, wurde Etienne Schneider in der Unterhaltungsindustrie fündig. Er verpflichtete Jeremy Rifkin aus der während Krisenzeiten in den USA florierenden Branche der Zukunftsforscher. Der Prophet aus Denver verrührt den American Dream, Genetik, New Age, Thermodynamik, Arbeitslosigkeit, Tierschutz, Ölkrise und Internet zu einer immer neuen Suppe, die er in zwei Dutzend Büchern auftischt, um seit über 40 Jahren in atemlosem Stil anzukündigen, dass die Welt unmittelbar vor einer Revolution steht (d’Land, 22.1.2016).
Die Initiative zum Kauf einer neuen Ideologie im Interesse der ökonomischen, politischen und ökologischen Nachhaltigkeit ging bemerkenswerterweise von einem LSAP-Minister aus. Der grüne Nachhaltigkeitsminister François Bausch musste dagegen weniger werbewirksam seinen eigenen Zukunftstisch herrichten. Die traditionelle Wirtschaftspartei DP blieb unsichtbar und verteilte stattdessen im ganzen Land ein Flugblatt „Däitlech méi“, ihr Premier Xavier Bettel verzichtete sogar darauf, die Zukunft der Volkswirtschaft zur Chefsache zu machen. Auch wenn Jeremy Rifkin am Montag als „Visionär“ vorgestellt wurde und CSV-Ehrenstaatsminister Jacques Santer einst riet, Leute mit Visionen sollten zum Augenarzt gehen, begrüßte CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler die Initiative schon vor einem Monat, um nicht konservativ auszusehen.
Jeremy Rifkin scheint der richtige Mann zu sein, um eine Ideologie zu liefern, die eine Alternative zum für die Exportwirtschaft hinderlichen Rückzug in den nationalen Identitätswahn bietet. Auch wenn sein Bericht an Fichtes geschlossenen Handelsstaat erinnert und weitgehend ohne Großregion, ohne Europäische Union und Maastrichter Stabilitätsdiktat auskommt. Ein wenig ist Jeremy Rifkin wie die regierende Koalition: wirtschaftsliberal, umweltbewusst und mit Respekt für den sozialdemokratischen Rheinischen Kapitalismus.
Das neuste Buch von Jeremy Rifkin, The Zero Marginal Cost Society, scheint es dem Wirtschaftsminister besonders angetan zu haben. Denn es verspricht, dass durch 3D-Drucker, Sonnenenergie, die Vernetzung von Alltagsgeräten und Internetuniversitäten jeder Verbraucher bald seine Bedürfnisse in eigener Produktion oder im Tausch mit dem Nachbarn befriedigen könne. So dass mit der Rückkehr zum vorindustriellem Handwerk und zur Tauschwirtschaft ohne Big Business wie Arcelor-Mittal und Deutsche Bank eine strahlende Zukunft bevorsteht. Oder wenigstens, dass die Google-Werbung im Kühlschrank zu Hause das selbstfahrende Elektroauto anweist, die Insassen zu einem Abstecher ins Kaufhaus zu entführen.
Das ist selbstverständlich der utopische Teil, der zur Ideologie gehört, um den prosaischeren herauszuputzen. Der prosaische Teil geht vom liberalen Axiom einer ungebändigten Technik aus, der sich die ganze Welt auch in der dritten Industriellen Revolution wie einer Naturgewalt fügen muss. So als seien die Umstände, unter denen Computer und Internet in der Produktion und Kommunikation eingesetzt werden, nicht Ergebnis ökonomischer Verhältnisse und politischer Entscheidungen.
Damit die Nachhaltigkeit das Primat über die soziale Frage behält, bezahlten und steuerten die Regierung, die Handelskammer und der Unternehmerverein IMS die Studie. Am konkretesten werden die von lokalen Arbeitsgruppen zusammengestellten Vorschläge, wenn es um weitgehend in öffentlicher Hand befindliche Wirtschaftsbereiche wie Energie und Transport geht. Mit einigen Allgemeinplätzen werden dagegen dringliche Probleme abgetan, wie dass die Sharing Economy von Uber, Airbnb & Co. über Internet organisierte Schwarzarbeit ist oder die digital vernetzte Produktion und Konsumption von Industrie 4.0 das Arbeitsrecht untergräbt.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, betonte der Direktor der Handelskammer, Carlo Thelen, am Montag wiederholt, dass der Rifkin-Bericht bloß eine „Toolbox“ sei, aus der sich die Unternehmer das eine oder andere passende Werkzeug fischen wollen. Bei den euphorischen Versprechen von der Vergesellschaftung gegen null tendierender Grenzkosten durch Verzicht auf steigende Gewinnspannen wurde offenbar die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Selbst in den Regierungs- und Unternehmerkreisen, die eine halbe Million Dollar für seinen Bericht ausgaben, tun viele Jeremy Rifkin als Scharlatan ab, und die meist recht vagen Vorschläge, wie die Luxemburger Volkswirtschaft digital, energiesparend und umweltfreundlich an der ungebändigten Technik der dritten Industriellen Revolution mitverdienen kann, mussten die hiesigen Arbeitsgruppen von Beamten und Unternehmern sowieso größtenteils selbst zu Papier bringen. Aber an Jeremy Riflkin richtet sich niemand, um sein Geld anzulegen, sondern um Ideologie zu kaufen oder um „die Diskussion anzustoßen“, wie es am Montag diplomatischer hieß.