Am Montagmorgen 8.30 Uhr staut sich auf dem Circuit de la Foire der Verkehr. Denn zum normalen Beruffstraffik gesellen sich 800 zusätzliche Leute, die in der Messehalle in weniger als einer Stunde hören wollen, wie der US-Futurologe Jeremy Rifkin weit mehr als das Luxemburger Verkehrsproblem lösen will. Drinnen am Empfang stehen sie Schlange zur Einschreibung, nehmen die 135-seitige „Kurzfassung“ der 3rd Industrial Revolution Strategy Study For the Grand Duchy of Luxembourg entgegen. Der komplette Bericht von 475 Seiten liegt an einigen Tischen zur „Konsultation“ aus. Die Hostessen haben ein Auge darauf, dass niemand die wenigen verfügbaren Exemplare unerlaubt einsteckt. Sharing is caring. Stehtische aus Wellkarton im Barockdesign sind ein dezenter Hinweis auf die Kreislaufwirtschaft.
Auf einer Leinwand hinter der Bühne im großen Konferenzsaal wird via Liveapp der Twitter-Feed mit dem Hashtag #tirlux für Third Industrial Revolution Luxembourg eingeblendet. Sehr modern! Im Laufe des Tages wird sich später der Botschafter in Moskau einen subversiven Scherz mit dem Hashtag erlauben: „Last week I was given Klaus Schwab’s book on the 4th industrial revolution. Did we buy used goods with #Tirlux? Need to read but it’s in Russian.“
Andere demonstrieren, wie das Kommunikationsinternet funktioniert: „@gigolamesch Bass de och hei??“ Im Programmheft ist Rifkins Rede offiziell mit dem Titel „Keynote speech – Les recommandations clefs de l’étude stratégique de Troisième Révolution Industrielle“ angekündigt. Daraus konnten die Zuhörer schließen, er werde ihnen erklären, welche Maßnahmen Luxemburg umsetzen muss, damit die Revolution gelingt. Das wird sich als Irrtum herausstellen. Rifkin redet nicht auf der Bühne, sondern davor. Wie ein neu-evangelischer Pastor schreitet er vor den Füßen von Ministern und VIPs hin und her, um seine Botschaft möglichst nah an die Prosumenten zu bringen, wie die Gläubigen seiner Konfession heißen – eine Mischung aus Produzenten und Konsumenten. Rifkin erzählt ersteinmal das gleiche wie vor einem Jahr. Erste und zweite, dann dritte Revolution in der Wirtschaft. Es sei nun soweit, ein „historischer Moment“. Luxemburg werde als erster Nationalstaat seine Ideen umsetzten. Die Studie umfasse 145 000 Worte, sei ein „Liebeswerk“ der 300 Leute aus Regierung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, die daran mitgearbeitet haben. Er hebt die neue Heilige Schrift ins dramatische Scheinwerferlicht: „Read it!“ Damit die Prosumenten bei der Stange bleiben, macht er ihnen erst einmal ein wenig Angst. Statt von den Reitern der Apokalypse und den alttestamentarischen Plagen erzählt er davon, dass zum letzten Mal vor 65 Millionen Jahren so viele Spezies wie heute vom Aussterben bedroht waren. Die Überlebenschancen für die Menschen? „Nicht gut. Wir sind die jüngste Spezies.“ Eine verheißungsvolle Pause folgt. Mancher Anzugträger schluckt bedrückt. „We are asleep“, tadelt Rifkin. Während in Marrakesch um die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens verhandelt wird, rüttelt Rifkin in Luxemburg das Publikum aus dem Todesschlaf und führt ihm die verschwiegene Gefahr vor Augen: Den Klimawandel. „Inspiring speech“ zwitschert jemand – ekstatische Erlösung. Dann erzählt Rifkin, dass er mit der Physikerin Angela Merkel über Thermodynamik gesprochen und sie von der Energiewende überzeugt hat. Auch mit den Chinesen ist Rifkin seit Jahren auf Du und Du – sie machen gute Fortschritte, lobt er wie ein stolzer Vater. Damit die kleinen Luxemburger nicht befürchten, er liebe die Chinesen und die Deutschen mehr als sie, wiederholt er dazwischen immer wieder, Luxemburg sei das erste Land, das seine Ideen auf nationaler Ebene umsetze. We are special. Er redet von sozialer Gerechtigkeit, von den paar Milliardären, die so viel besitzen, wie die halbe Weltbevölkerung. „Keiner wird zurückgelassen!“ Doch die Erklärung, wo die jungen Leute, die in der Teilwirtschaft Apps schreiben, um Gratis-Dienstleistungen zu organisieren, das Geld für die Miete verdienen sollen, bleibt er schuldig. Er überzieht seine Redezeit gnadenlos. Irgendwann spricht er von einer „globalen Marke“ und er hat sich dermaßen in den Wahn geredet, dass er vergisst, dass sich sein Wirkungsbereich einstweilen auf die Erde beschränkt und bringt eine „interplanetare Verbindung“ ins Spiel. „Power to the people!“, sagt er noch. „Ja, und den Marsmenschen auch!“, möchte man hinzufügen. „It’s amazing what you’ve done“, lobt Rifkin. Er schüttelt die Bibel. „145 000 Worte.“ Die Teilnehmer der Arbeitsgruppen twittern: „Proud to be part.“ Es ist 10.30 Uhr und niemand kennt die Schlussfolgerungen der Studie.
Etienne Schneider spricht kurz von den neun großen Projekten, die demnächst umgesetzt werden sollen. Die Fotografen stürzen nach vorne, um den neuen Redner einzufangen. Carlo Thelen spricht von einem Werkzeugkasten, aus dem man sich bedienen könne, auch er wird abgelichtet, auf Stelzen befestigte Kameras fangen den Moment ein. Dann wird ein kurzes Filmchen gezeigt. Eine junge Frau im Islandpulli und ein junger Mann, mit verkehrt herum sitzender Schirmmütze im Auto. Sie lassen den Wagen stehen und entdecken zusammen, wie weit die Revolution in Luxemburg fortgeschritten ist. Sie besuchen eine Gemüsekooperative. Und einen Industriebetrieb, der Bodenbeläge herstellt und vermietet. „Alors, vous faites quoi ici?“, fragt die junge Frau mit naivem Gesichtsausdruck. „Mais, c’est incroyable!“, sagt sie erleuchtet. Am Ende des Tages verzichtet die neue Revolutionärin natürlich gerne auf ihr Auto.
Rundtischgespräch: Mariette Zenners moderiert, Michel Wurth, Handelskammerpräsident, Rifkin, Etienne Schneider und Christian Scharff von IMS Luxemburg steigen auf die Bühne. Schneider ist der wahre Erlöser. Mit wenigen Worten hat der die Herausforderungen der Digitalisierung zusammengefasst. „Wo zahlen die Grenzpendler Steuern, wenn sie von zuhause aus für einen Luxemburger Betrieb arbeiten?“, fragt er. Halleluhja! Endlich Klartext. Michel Wurth hält Etienne Schneider, der von sinkenden Reallöhnen spricht, sinkende Produktivität entgegen. Lobet den Herrn, die Diskussion ist bei den Luxemburger Tatsachen angelangt. Das geht Rifkin zu weit. Er greift ein. Er erinnert daran, dass er Angela gesprochen hat. Auch davon, dass es viele Naturschutzgebiete in Luxemburg gibt; „a good thing“. Die durch Umweltschutzmaßnahmen traumatisierten Industriekapitäne werden im Dämmerlicht bleich und rutschen ein wenig auf ihren Stühlen herum – wie unangenehm. Die Leute dürften Fragen stellen, wenn Rifkin das Wort abgeben würde. Mariette Zenners bittet ihn, andere reden zu lassen. Der Prophet ist angesichts dieses blasphemischen Vorgangs äußerst pikiert. Darüber beschwert er sich noch 20 Minuten später bei den Organisatoren.