„Da draußen sitzen sie, jede Pause, wenn die anderen zu Mittag gehen“, sagt Maria Ferreira* und sie zeigt aus dem großen Fenster der grau gekachelten Wohnküche auf die verregnete Straße. Vor ihrem Lallinger Wohnblock, in dem die Portugiesin seit gut einem Jahr lebt, befindet sich die Stadtteilschule. Auch um diese Zeit kauern einige Jugendliche an der Bushaltestelle und wippen sichtlich gelangweilt mit den Füßen. „Es kann doch nicht sein, dass in diesem reichen Land Eltern kein Geld haben, ihren Kindern das Essen zu bezahlen“, regt sich Ferreira auf. Sie sieht in ihrem Viertel im Süden jene Armut, die in abstrakten Statistiken auftaucht, über die in den Medien aber kaum näher berichtet wird.
Mit ihr habe das Schicksal es noch gut gemeint, findet Ferreira. Ihre Tochter geht in ein Lyzeum in der Nähe. Darauf ist die 34-Jährige mächtig stolz, ein Lächeln erhellt ihr Gesicht, wenn sie davon erzählt. Eine gute Ausbildung soll es ihrer Tochter ermöglichen, es einmal besser als sie zu haben. Ferreira ist staatlich anerkannte Tagesmutter. Eine große Holzkiste prall gefüllt mit diversem Spielzeug und eine orangene Kuh, die bei Knopfdruck Geräusche macht, zeugen davon: „Nach meiner Scheidung erschien mir der Job viel versprechend, um Geld zu verdienen und gleichzeitig bei meinen Kindern zu sein“, erzählt sie und streicht sich das dunkle Haar aus dem Gesicht.
Doch seit einiger Zeit klappt das immer weniger. Nur noch 2 000 bis 2 200 Euro verdiene sie in einem Monat – wenn es gut läuft. Weil ihr Arzt nach einem Schwächeanfall bei ihr Muskelschwäche diagnostizierte, musste sie aufhören, Babys aufzunehmen: „Ich konnte es nicht mehr verantworten. Was, wenn ich plötzlich einen Schub bekomme?“ Wer Kleinkinder betreut, könne um die 4 000 Euro verdienen, sagt Ferreira. Das sei nötig, um von dem Geld leben zu können. Schließlich müssten sich Tagesmütter als Freiberufliche selbst versichern, für Spielzeug, Fortbildungen und Unternehmungen kommen sie ebenfalls selbst auf.
Zunächst habe sie probiert, den Einkommensverlust durch preisbewussteres Einkaufen aufzufangen: Gesucht werden Sonderangebote aller Art, auch in Deutschland oder in Frankreich. „Aber es wird überall teurer“, so ihre Beobachtung. Die höhere Mehrwertsteuer, das gekürzte Kilometergeld, die Spritzen für ihre Krankheit, aber auch die gestiegenen Preise für Wasser und Gas – all das drücke schwer aufs Portemonnaie, sagt Ferreira: „Ich muss mit über 300 Euro monatlich weniger auskommen, das geht auf Dauer nicht.“ Die Preise erhöhen und statt der vier Euro pro Betreuungsstunde, wie sie in Esch üblich sind, fünf oder sechs Euro zu verlangen, wie in Luxemburg-Stadt oder im Norden, will sie nicht: „Die meisten Eltern, die ihre Kinder zu mir bringen, sind selbst knapp bei Kasse“. Und könnten noch ärmer werden, befürchtet Ferreira, schließlich plane die Regierung, für Neugeborene das Kindergeld zu kürzen. Eigentlich sollte die Reform ab 1. Januar greifen, aber das Gesetz wurde noch nicht verabschiedet.
Dass die blau-rot-grüne Regierung mit dem Spruch wirbt, die Kinder stünden „im Zentrum der Familienpolitik“, findet die Tagesmutter zynisch: „Viele Kürzungen betreffen gerade Familien und Alleinerziehende. Die Politiker haben keine Ahnung, was ein paar hundert Euro weniger im Monat für einen Haushalt wie meinen bedeutet“, schimpft sie. Das Argument, dass mehrere Kinder weniger kosten sollen, etwa weil Kleidung weitergegeben werden kann, lässt sie nicht gelten: „Eine größere Familie braucht mehr Platz. Aber wenn schon Luxemburger mit mittlerem Einkommen keine Wohnung finden, wie sollen wir es dann?”
Von der Politik fühlt sich die junge Frau, die sich nach und nach in Rage redet, im Stich gelassen: „Der Staat weiß, dass es für immer mehr Leute hinten und vorne nicht reicht. Die Zahlen sind eindeutig.“ Trotzdem fahre die Regierung fort mit ihrer rigorosen Sparpolitik. Das Armutsrisiko für Kinder liegt im reichen Luxemburg bei über 25 Prozent, allerdings sind die Statistiken wegen unterschiedlicher Berechnungsgrundlagen mit Vorsicht zu lesen. Fast jede zweite Alleinerziehende in Luxemburg lebt unterhalb der Armutsgrenze. Eine Entwicklung, die auch in zahlreichen Facebook-Einträgen empört kommentiert wird.
Gewerkschaften und die Caritas mahnen seit längerem, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in Luxemburg rasant öffnet. Jean-Claude Reding, Präsident der Arbeitnehmerkammer und ehemaliger OGBL-Präsident, warnte in seiner Neujahrsansprache am Montag, das Kindergeld werde, zusätzlich zur Kürzung, wegen der seit 2006 ausgesetzten Indexierung „weiter an Wert verlieren“. Er forderte die Regierung auf, Ungerechtigkeiten bei der Steuerbelastung endlich „aus der Welt zu schaffen“. Aber auch von den Gewerkschaften verspricht sich Ferreira nicht viel: Als Freiberuflerin bekomme sie, anders als Erzieherinnen einer Crèche, keine Unterstützung: „Wo waren die Gewerkschaften, als die Regierung die Kürzungen beschlossen hat? Wo sind sie, um unsere Interessen zu verteidigen?“, fragt sie verbittert. Weil sie von ihrem Job immer schlechter leben kann, sattelte Ferreira um: In der wenigen verbliebenen freien Zeit ließ sie sich in Abendkursen zur Versicherungsangestellten umschulen. So habe sie, hofft Ferreira, bald ein geregeltes Einkommen. Eine Teilzeitanstellung in einem Versicherungsbüro hat sie bereits gefunden.
Solche Aussichten hat Pedro Camaro* nicht. Der gelernte Maurer wohnt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in einer kleinen Wohnung in Limpertsberg. Das Stadtviertel gilt als eines der besseren Viertel in der Hauptstadt. Auf einer Karte hatte das Forschungsinstitut Foreg 2007 Häuserblöcke nach Einkommen eingezeichnet: Fast überall in Limpertsberg war grün zu sehen (für hohes Einkommen). Nur in der Gegend, in der Pedro und seine Familie wohnen, prangte ein gelber Fleck. Heute wäre er womöglich rot: Seit einem schweren Unfall bezieht der Arbeiter noch 800 Euro Erwerbsunfähigkeitsrente. Das sind rund 1 000 Euro weniger als vorher, die der fünfköpfigen Familie dringend fehlen. Christina Camaro, seine Frau, arbeitet in der Küche eines Krankenhauses. Im Moment verdient die drahtige Frau, die ihrem Mann vor acht Jahren nach Luxemburg folgte, den Löwenanteil für den Unterhalt, und es sieht ganz so, als würde das eine Weile so bleiben: Obwohl sich ihr Mann im Herbst für eine Umschulung eingeschrieben hatte, haben sich die Behörden nicht zurückgemeldet. Das kratzt am Ego, auch wenn Pedro nicht darüber redet. „Wir streiten mehr, oft hängt er apathisch herum“, sagt Christina und ihre Stimme schwankt zwischen Ärger und Verzweiflung. Sie sieht müde aus.
Dabei hatten die beiden vor dem Unfall noch Umzugspläne geschmiedet: Der Vermieter, dem die 70-Quadratmeter-Wohnung im Dachgeschoss gehört, verlangt fast 1 400 Euro Miete, investiert aber kaum in das Haus: Die Tapete blättert im Wohnzimmer, das zugleich Arbeitszimmer und Esszimmer ist. An der Decke sind gelbe Stockflecken zu sehen und unterm Fenster am Heizungskörper klebt Alufolie: „Weil es sonst nicht richtig warm wird“, erklärt Christina. Im Herbst flatterte eine Rechnung ins Haus: 1 000 Euro Heizungskosten sollte die Familie nachzahlen. Ein Schock: „Für andere mag die Summe kein Problem sein, aber für uns schon“, sagt Christina Camaro und knetet nervös die Hände. Entsprechend verzweifelt war sie, als sie erfuhr, dass die Regierung Kürzungen bei den Familienzulagen plane: „Sie sagen, dass für uns alles gleich bleibt, aber das stimmt nicht. Wenn meine jüngste Tochter in die Schule kommt, werden wir weniger Schulbeihilfe bekommen. Ganz zu schweigen davon, dass ich, wie alle anderen, die 0,5-Prozent-Steuer** bezahle und alles immer teurer wird.“ Die Erziehungszulage**, die bis zum zweiten Lebensjahr galt, aber ab Juni vergangenen Jahres gestrichen wurde, bekommt die Familie für die einjährige Tochter weiter ausgezahlt.
Große Hoffnung setzten die Camaros in die neue Wohnungszulage, die Geringverdiener seit dem 1. Januar beantragen können. „Aber im Amt haben sie dann gefragt, ob wir ein Haus in Portugal haben.“ Tatsächlich hatte Christina Camaro das Haus ihrer Mutter überschrieben bekommen, eigentlich, damit sie, als es finanziell besser lief, die Grundsteuer für ihre Mutter übernehmen könnte. Die Wirtschaft in dem Land kriselt seit Jahren und die alte Frau bekommt nur eine bescheidene Rente. Es ist ein kleines Haus und außer der Mutter wohnt niemand darin. „Wir haben also nichts davon“, ärgert sich Christina Camaro.
Dabei bräuchte die Familie, neben mehr Geld, dringend mehr Platz: Die Geschwister teilen sich ein klitzekleines Zimmer, die ältere Schwester hat ein eigenes Zimmer, das Platz für ein Bett, einen Tisch und eine kleine Kommode bietet. Die Enge führt zu Konflikten. Trotzdem hat es sich die Familie so gemütlich gemacht, wie es eben geht: An den Wänden hängen selbstgemalte Kinderzeichnungen, im Wohnzimmer zieren Fotos die Essecke. Die portugiesische Nationalflagge an der Tür darf nicht fehlen. Eine größere Unterkunft nicht allzu weit weg, damit das Mädchen weiter die Schulklasse auf dem Limpertsberg besuchen kann, und einen Job für den arbeitslosen Vater stehen auf der Wunschliste der Camaros ganz oben; Aussicht auf Erfüllung: eher unwahrscheinlich. Christina Camaro plagt noch eine große Sorge: Was wenn der Vermieter mit der Jahresendabrechnung die Miete anheben wird? „Ich weiß wirklich nicht, was wir dann machen sollen.“