Es ist der Alptraum aller Eltern: Eine Mutter wartet auf ihre Kinder, die nach der Schule nicht, wie sonst, nach Hause kommen. Völlig außer sich ruft sie die Polizei an – um einige Zeit später zu erfahren, dass eben diese ihre Kinder in der Schule abgeholt und in ein Kinderheim untergebracht hat. Man hatte vergessen, ihr Bescheid zu sagen.
Diese Ungeheuerlichkeit ist leider keine fiktive Geschichte, sondern trug sich so dieses Jahr in Luxemburg zu. Dass Polizisten Kinder in den Schulen abholen, um sie auf Anordnung eines Gerichts ins Kinderheim zu bringen, oft dazu in voller Uniform, hat neben dem Kinderrechtsbeauftragten auch die Menschenrechtskommission wiederholt angeprangert. Und ihre Kritik bis vor den Premierminister getragen. Xavier Bettel gelobte damals zu schauen, wie sich das ändern ließe, aber bisher ist die kinderrechtsverachtende Praxis noch immer nicht abgestellt. Und sogar wenn Eltern informiert werden, beschränkt sich dies oft auf ein dürres Schreiben, in dem in kühlem Amtsfranzösisch der Grund für die Mitnahme steht. Manchmal ist Gefahr im Verzug – aber immer trifft es die Eltern wie der Schlag.
„So etwas darf nicht sein. Selbst wenn es ernsthafte Probleme gibt“, sagt der Kinderrechtsbeauftragte René Schlechter. Soeben hat sein Ombudskomitee für Kinderrechte seinen Jahresbericht veröffentlicht, darin gilt das Hauptaugenmerk der Problematik rund ums elterliche Sorgerecht. „Schon Anstand und Respekt gebieten, dass bei einem so gravierenden Eingriff in die Privatsphäre und die Freiheit des Einzelnen, Eltern rechtzeitig und umfassend informiert werden.“
Das rücksichtslose und respektlose Vorgehen der Strafbehörden ist oft nur der Anfang einer schwierigen konfliktreichen Beziehung zwischen Eltern und Justiz. Weil viele Heime überbelegt sind, kommt es vor, dass der Zugriff der Justiz erst viel später als die gerichtliche Anordnung erfolgt, wenn Eltern beispielsweise schon begonnen haben, ihr Verhalten zu ändern. „Die Polizei greift dann zu, weil ein Bett frei ist, nicht weil Gefahr im Verzug besteht“, so Schlechter. Erschwerend kommt hinzu, dass Eltern, deren Kind durch das Jugendgericht in einem Heim untergebracht wird, automatisch das Sorgerecht entzogen wird, um es auf die Heimeinrichtung zu übertragen. Begründet wird die Vorgehensweise damit, dass die Erziehungsarbeit mit dem Jugendlichen einfacher würde.
Der Automatismus wird seit Jahren kritisiert, er widerläuft der Kinderrechtskonvention, die Luxemburg unterschrieben hat. Demnach hat ein Kind das Recht auf eine Familie, und auch deren Rechte gilt es zu schützen. Sprechen gewichtige Gründe dagegen, etwa wenn Eltern im Verdacht stehen, das Kind zu missbrauchen oder misshandeln oder aus anderen gravierenden Gründen nicht in der Lage sind, sich um ihr Kind zu kümmern, bedeutet das noch lange nicht, dass damit automatisch das Sorgerecht entzogen gehört. Dass der automatische Entzug des Sorgerechts nicht unbedingt die Beziehung zwischen Eltern und Behörden verbessert, sondern eher kontraproduktiv wirkt, wenn es darum geht, Väter und Mütter für eine bessere Erziehung ihrer Kinder zu gewinnen, sagen Kinderrechtler, Sozialarbeiter und selbst Richter ebenfalls seit vielen Jahren. Aber trotzdem hat sich an der Rechtslage noch immer nichts geändert.
„Eltern erleben die Wegnahme ihres Kindes als Schlag in den Magen, denn so ein Eingriff kommt oft, wenn die Familie bereits in einer Krise steckt“, erzählt Françoise Gillen, Juristin beim ORK. „Sie erleben den Eingriff als stigmatisierend und bekommen das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben.“ Das setze eine „ungesunde Dynamik“ in Gang, wenn nämlich Eltern die Heimerzieher als Konkurrenz oder gar Gegner im Kontakt und bei der Erziehung ihres Sohnes oder ihrer Tochter erleben und ihre Mitarbeit in einer für alle Beteiligten schwierigen Situation dann aus Ohnmacht, Wut oder Protest verweigern.
Jedes Jahr neu mahnt das Ombudskomitee den flagranten Verstoß gegen Kinder- und Elternrechte an, zumal das Jugendhilfegesetz die Beteiligung der Familien ausdrücklich vorsieht. „En faisant abstraction de la perte systématique de l’autorité parentale sur les familles, les défenseurs ne s’intéressent surtout qu’au point de vue d’une ,meilleure gestion’ de l’institution ou du titulaire de garde“, heißt es dort. Kinderrechtsbeauftragter Schlechter und Anwältin Gillen verlieren angesichts des politischen Stillstands zunehmend die Geduld: „Zwei Generationen von Kindern haben bereits unter den Folgen dieser Regelung leiden müssen“, empört sich Schlechter. Das ORK schlug vor einiger Zeit vor, die Praxis zu überdenken und den Jugendschutz ähnlich wie in Frankreich zu reformieren, so dass der Gesetzgeber die Bindung zur Familie eher stärkt als schwächt. Es erneuerte seine Forderung im Kontext der Arbeitsgruppe, die zurzeit im Justizministerium über eine Reform des Gesetzes berät. In Frankreich kann ein Familienrichter nur, wenn sich Eltern gar nicht für ihre Kinder interessieren oder sie ihr Sorgerecht aus anderen Gründen nicht wahrnehmen können, dies an Dritte delegieren – vorausgesetzt, es ist im Interesse des Kindes und die Eltern wurden vorher beide gehört. Hierzulande kommt es aber oft genug vor, dass Eltern bei einer so weitreichenden Entscheidung dennoch nicht vor Gericht angehört wurden. „Unser Jugendschutzgesetz ist latent elternfeindlich“, schlussfolgert René Schlechter.
Dabei hatte die blau-rot-grüne Regierung versprochen, das Jugendschutzgesetz zu reformieren und sich grundsätzlich Gedanken über das elterliche Sorgerecht zu machen. Der grüne Justizminister Félix Braz bekräftigte dies bei einer Anhörung des ORK im Januar dieses Jahres in einer gemeinsamen Sitzung des parlamentarischen Familien- und des Justizausschusses. Probleme mit der Sorgerechtsregelung gibt es nämlich nicht nur bei Familien in Krisensituationen, sondern auch bei verheirateten Paaren, deren einzige Sorge oft ist, dass sie nicht mehr zusammenleben wollen. Ein gemeinsames Sorgerecht, obwohl seit über zwei Jahrzehnten gefordert und von dieser Regierung für Frühjahr 2015 versprochen, gibt es weiterhin nicht. Die Regierung will die Problematik im Rahmen der Scheidungsreform und einer neuen Familiengerichtsbarkeit regeln, doch noch immer liegt kein Entwurf auf dem Tisch.
Bei verheirateten Paaren ist die Lage klar, sie teilen sich die Sorge für ihre Tochter oder ihren Sohn. Doch im Falle einer Scheidung geht nicht selten das Gezerre los. Häufig wird vom Gericht zunächst demjenigen Partner die Aufsicht über das gemeinsame Kind zugesprochen, bei dem es wohnt. Vorübergehend zwar, doch aus dem Provisorium kann ein Dauerzustand werden, wenn der Rechtsstreit dauert und das Kind in dieser Zeit seinen Rhythmus gefunden hat und nicht aus der gewohnten Umgebung herausgerissen werden soll. „Das kann aus kinderrechtlicher Perspektive Sinn machen, das Kind nicht von seinem Elternteil zu trennen“, räumt Françoise Gillen. Doch für den Elternteil, dem nur das Recht bleibt, das Kind zu bestimmten Zeiten zu besuchen, und vielleicht sogar dafür kämpfen muss, ist das bitter. Oft wird deshalb vor Gericht erbittert um das alleinige Sorgerecht gestritten, wird der Kontakt zum ehemaligen Partner beschränkt und sabotiert, um am Ende nicht als Verlierer da zu stehen. „Ein Kind braucht beide Eltern, es hat ein Recht darauf, mit beiden gleichermaßen Kontakt zu haben“, betont René Schlechter.
Umso mehr drängt das Ombudskomitee darauf, die Folgen einer Trennung für die Kinder von Anfang an mitzudenken, etwa in Form einer Mediation oder einer obligatorischen Scheidungsberatung. „So würden Eltern angehalten, sich genau zu überlegen, wie ihr Handeln auf ihr Kind wirkt“, so René Schlechter, der es immer wieder erlebt, dass Mütter oder Väter bei ihm auftauchen, weil sie davon ausgehen, mit der provisorischen Aufsicht automatisch auch das alleinige Sorgerecht zu haben. In Luxemburg gibt es drei konventionierte Einrichtungen, die professionelle Familienmediation anbieten, das erste Gespräch ist umsonst, weitere Sitzungen kosten dann je 40 Euro.
Ein gemeinsames Sorgerecht wird bei heillos verkrachten Eltern Streitereien darum, was mit den gemeinsamen Kindern geschieht, allerdings kaum verhindern können. „Immer wenn Emotionen im Spiel sind, wird es schwierig“, sagt René Schlechter, aber immerhin würde der Gesetzgeber damit ein klares Signal setzen: Beide Eltern sind gleichermaßen verantwortlich für das Wohlergehen ihres Kindes und müssen sich deshalb „zusammenraufen“. Denn es gehe nicht um ein „Elternrecht am Kind, sondern um das Recht des Kindes, in liebevoller Atmosphäre aufzuwachsen und zu beiden Eltern eine gute Beziehung zu haben“.
Noch schwieriger ist es für Paare, die nicht verheiratet sind. Viele Väter bringen sich heute mehr ein denn je in die Erziehung ihrer Kinder, doch im Trennungsfall ziehen sie oft den Kürzeren. Der Name des Vaters kann in der Geburtsurkunde eingetragen sein, aber weil es kein gemeinsames Sorgerecht gibt, trägt in diesen Fällen die Mutter das alleinige Sorgerecht, sofern es nicht vorher gerichtlich auch dem Vater (oder einer anderen Person) erteilt wurde. Das dauert oft Monate oder sogar Jahre. „Steht eine Trennung an, fallen viele Väter aus allen Wolken, weil sie feststellen müssen, dass sie über kein Recht der elterlichen Sorge verfügen“, beschreibt René Schlechter. Selbst für gutwillige Eltern, die auf eine einvernehmliche Trennung mit fairen Umgangsregeln setzen, kann das ein Schock sein – und ein Auslöser, per Anwalt um das Sorgerecht zu streiten. „Egal, wie der Streit ausgeht, einen Verlierer gibt es immer: das Kind“, mahnt René Schlechter.