Guy Helmingers neuer Roman Neubrasilien ist eigentlich zwei Romane in einem: Einerseits erzählt er von einer Bauernfamilie aus Wahl, die ihren Hof verkauft, um nach Brasilien auszuwandern. Die einfachen Leute aus dem Ösling kommen auf ihrer Reise in eine bessere Welt nur bis Bremen, wo sie erfahren, dass die Schiffe keine Emigranten mehr mitnehmen. Monate später kehren sie völlig ver-armt in ihre Heimatgegend zurück. Andererseits beschreibt er, wie es eine montenegrinische Familie aufgrund der politischen Unruhen in ihrer Heimat nach Luxemburg verschlägt. Vier Jahre später wird ihr Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung abgelehnt und man bringt sie zurück nach Montenegro.
Die erste Geschichte spielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die zweite zu Beginn des 21. Die Schicksale der beiden Familien sind nicht identisch. In mindestens einem Punkt stimmen sie jedoch überein: Ihr Scheitern ist nicht ohne Weiteres wieder gut zu machen; es gibt keine wahre Rückkehr aus dem Exil. „Man nimmt ein Leben nicht einfach an der Stelle auf, an der es unterbrochen wurde, so wie man zwei Metallrohre wieder zusammenschweißt,“ sagt eine Figur im Roman, als sie ahnt, dass sie in der selbst gewählten Heimat nicht wird bleiben können.
Abwechselnd verfolgt Guy Helminger die beiden Erzählstränge und die Geschicke ihrer Hauptfiguren. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei den Töchtern, einer anfangs noch reichlich naiven Josette Meier, die sich kaum für etwas anderes interessiert als für die Sauberkeit ihrer Schürze und dafür, wen sie heiraten wird, und Tiha Kaljevic, die zu Beginn zwar erst zehn Jahre alt, aber ihre Situation besser einzuschätzen weiß, als man es unmittelbar von einem Kind erwarten würde.
Wie gewohnt verknüpft Helminger die Schicksale seiner Figuren sowohl auf beiläufige als auf geradezu existenzielle Weise. Selten führt er eine Figur in die Handlung ein, die nicht später im Roman noch eine Rolle spielt. Ein Mann, der seine Frau kurzerhand am Remicher Ufer zurücklässt, weil sie sich weigert, ihn nach Brasilien zu begleiten, taucht gegen Ende als Bewohner von „Neubrasilien“ wieder auf, und Tihas Vater lernt den Vater ihrer Schulfreundin Charlotte beim Biertrinken in einer Escher Kneipe kennen, ohne dass die Männer wüssten, dass ihre Töchter bereits miteinander befreundet sind.
In Neubrasilien geht Helminger jedoch noch einen Schritt über sein gewohntes Erzählmuster hinaus: Er verbindet die einzelnen Lebenswege nicht nur innerhalb einer Zeitebene, sondern strickt auch Verbindungen zwischen diesen Ebenen, zwischen dem Scheitern der Meiers einerseits also, und dem der Kaljevics andererseits. Das geschieht zum Beispiel über die Orte, an denen sich die Handlung abspielt. Die montenegrinischen Flüchtlinge kommen in Esch unter, das auf der vorgelagerten Zeitebene in Erzählungen eines alten Notars ausführlich beschrieben wird. Die Gegend um Wahl ist umgekehrt das Ziel eines Schulausflugs von Tiha und Charlotte. Wo die sogenannten „Brasilianer“ im 19. Jahrhundert im Chor stehen bleiben mussten und selbst beim Pfarrer mehr mit Häme als mit Mitleid zu rechnen hatten, lümmeln nun gelangweilte Halbwüchsige auf den Kirchenbänken herum.
Helminger erzeugt aber auch über den Text selbst Verbindungen zwischen den beiden Erzählebenen, und zwar zunächst noch ohne dass ein direkter inhaltlicher Zusammenhang ersichtlich würde. „Hör auf zu träumen,“ sagt so die Lehrerin zu Tiha, die dem Unterricht in der fremden Sprache noch kaum folgen kann und stattdessen an die Freundinnen denkt, die sie in Montenegro zurückgelassen hat. „Träum nicht,“ hört auch Josette etwa zwanzig Seiten später jemanden sagen, kann aber nicht ausmachen, woher die Stimme kommt, wundert sich sogar, dass die Stimme ihrer Mutter so weit tragen sollte. Sogar in noch kleineren Details finden sich Entsprechungen zwischen den beiden Geschichten: Eine Elster sitzt bei Charlottes Eltern auf dem Fenstersims, während Tiha und ihre Eltern dort zu Abend essen. Wenig später fliegt eine Elster über die Felder bei „Neubrasilien“.
Die Geschichte der gescheiterten Auswanderer aus dem 19. Jahrhundert verdichtet sich nach und nach zum historischen wie dramatischen Hintergrund für die Geschichte der Flüchtlinge aus Montenegro, die versuchen, in Luxemburg Fuß zu fassen. Helminger ist am Ende sichtlich bemüht, auch einen direkten inhaltlichen Zusammenhang zwischen den beiden Geschichten herzustellen, indem er suggeriert, Josette, die zum Schluss noch einmal auswandern muss, könnte eine Urahnin von Tiha sein. Mit dieser etwas unplausiblen und erzählerisch eigentlich nicht nötigen Wendung ist vielleicht angezeigt, dass das Buch, das sich zwar in beiden Erzählsträngen genau an die historischen und geographischen Eckdaten hält, nicht als „historischer Roman“ verstanden werden will. Helminger spickt insbesondere den im eigentlichen Sinn „historischen“ Teil mit kleinen literarischen Referenzen, die die Erzählung als literarisches Konstrukt enttarnen: Zum Beispiel will auf dem Schiff Richtung Norddeutschland eine hysterische Frau vor Koblenz ein unheimliches Wesen im Wasser entdeckt haben, oder ein hoffnungslos betrunkener Leo Meier meint in Bremen, einen Hahn auf dem Rücken einer Katze sitzen zu sehen.
Der zeitgenössische Teil des Romans lässt sich andererseits auch nicht recht in die Kategorie politisch engagierter Literatur einordnen. Zwar führt Helminger dem Leser die unzumutbaren Zustände der Unterkünfte vor, in denen die Flüchtlinge leben müssen, und versetzt den Text mit Anspielungen auf das politische und gesellschaftliche Geschehen aus der Zeit um die Jahrtausendwende, aber eine „politisch engagierte“ Ausrichtung bringt das Thema fast schon von alleine mit sich. Dass die Ausweisungsprozeduren in Luxemburg mehrere Jahre in Anspruch nehmen, spricht für sich. Worum es Helminger eigentlich zu gehen scheint, sind vielmehr die Einzelschicksale der gescheiterten Exilanten und die Frage, was es bedeutet, weder richtig im Exil ankommen, noch richtig in seine Heimat zurückkehren zu können.
Trotz einiger Schwächen im „historischen“ Erzählstrang, einer besonders zu Beginn etwas holzschnittartigen Figurenzeichnung und einigen verzichtbaren melodramatischen Wendungen, macht in Neubrasilien gerade die historische Perspektivierung den besonderen Reiz der zeitgenössischen Auswanderergeschichte aus. Umgekehrt wirkt die unverkrampfte Behandlung des historischen Stoffes wie eine Befreiung von dem Staub und Pathos, die der literarischen Verarbeitung solcher Stoffe in den Texten luxemburgischer Autoren seit Romanen wie Heins Verräter immer noch angehaftet haben.