Ein Schattenbericht stellt fest: Luxemburg hat bei der Inklusion und Nicht-Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen dringenden Nachholbedarf

Ans Licht

d'Lëtzebuerger Land vom 14.04.2017

Behinderung geht jeden etwas an, steht in der Einleitung zum Länderbericht Luxemburg, den die Regierung im März 2014 nach Genf ans Behindertenrechtskomitee der Vereinten Nationen schickte. Die Nachricht sei angekommen, so schrieben die Autoren damals, spätestens mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, in dessen Folge ein nationaler Aktionsplan zur Verbesserung der Situation von Behinderten auf die Schiene gebracht wurde. Die Wichtigkeit, zusammenzuarbeiten, um den Bedürfnissen behinderter Menschen gerecht zu werden, werde nicht mehr in Frage gestellt.

Diese und weitere rosige Beschreibungen der Lage der Behinderten klingen allerdings diametral anders, wenn man den Schattenbericht liest, den eine fünfköpfige Delegation Betroffener aus Luxemburg am 14. März am Sitz der Vereinten Nationen in Genf überreichte. Ob es der Bereich Bildung ist, der Zugang zu Arbeit und Informationen, Gesundheitsversorgung, Menschenrechte, Beteiligung – überall besteht mehr oder weniger Nachholbedarf.

Bereits die Vorgeschichte des Schattenberichts steht sinnbildlich dafür, wie Menschen mit Behinderungen in Luxemburg nach wie vor zu den Vergessenen, Diskriminierten und nicht ganz Ernstgenommenen zählen. Es war der Behinderten-Selbsthilfeverein Nëmme mat eis, der sich der Herkulesaufgabe angenommen hatte, den alternativen Bericht zu koordinieren. Doch die Aufgabe, über 50 Behindertenverbände zu kontaktieren, Termine zu organisieren, Interviews zu dokumentieren und zu analysieren, Gesetze auf mögliche Lücken zu überprüfen und zudem Verbesserungsvorschläge zu entwickeln, wuchs den Engagierten schnell über den Kopf. Der erste Anlauf scheiterte schlichtweg an fehlenden Ressourcen, denn die Mitglieder von Nëmme mat eis arbeiten alle ehrenamtlich. „Irgendwann sind immer mehr Leute frustriert abgesprungen und es sah so aus, als würde aus einem Schattenbericht für Luxemburg nichts“, erzählt Patrick Hurst, Gründungsmitglied von Nemme mat eis, im Rückblick.

Es ist der tatkräftigen Unterstützung des Europäischen Behindertenforums (EBF) zu verdanken, dass es überhaupt einen Schattenbericht gibt. Die größte Behindertenvertreterorganisation Luxemburgs, Info-Handicap, hatte sich zunächst in den Beratungen zurückgehalten, auch weil in der Vergangenheit der Vorwurf geäußert wurde, die staatlich konventionierten Vertretungen seien nicht unabhängig genug. Mit der Möglichkeit des Scheiterns konfrontiert, wurde gemeinsam mit Nëmme mat eis und mit Hilfe des EBF nach einem Weg gesucht – und gefunden. Im Juni 2016 machten sich zwei Jura-Studentinnen daran, den neuen Anlauf zu koordinieren. Die 6 000 Euro Aufwandsentschädigung wurde von Info-Handicap Asbl finanziert. „Wir hatten den Regierungsbericht als Ausgangspunkt gelesen, und da klang alles ziemlich positiv“, beschreibt Christine Leidner, die Internationales Recht studiert hat, die Herangehensweise. Doch über die Monate, nach zahlreichen Gesprächen mit Experten, Einrichtungen, Diensten und Behörden und mit den Betroffenen selbst, wurde die Mängelliste immer länger. Weil der Schattenbericht auf gut 50 Seiten begrenzt sein sollte, wurden zwei Versionen veröffentlicht: eine 55-seitige offizielle in Englisch, die dem UN-Behindertenrechtskomitee vorgelegt wurde, sowie eine 84-seitige deutsche. Die deutsche Fassung enthält zusätzlich Fallbeispiele auf der Basis anonymisierter Zeugenaussagen.

Was die Studentinnen in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen haben, betrifft alle Bereiche der gesellschaftlichen Teilhabe. In Luxemburg fehlt eine einheitliche Definition von Behinderung, auch wenn der Länderbericht von 2014 behauptet, mit dem Aktionsplan habe es einen Paradigmenwechsel gegeben. Tatsächlich, so die Autorinnen des Alternativberichts, dominiere oft eine rein medizinische Betrachtungsweise. Mit der Konsequenz, dass die soziale Dimension von Behinderungen nicht so sehr im Fokus steht. Doch Themen wie persönliche Assistenz beispielsweise haben einen medizinischen Aspekt (wenn es um die Finanzierung von Hilfen über die Pflegeversicherung oder Krankenkasse geht), aber vor allem auch eine soziale Dimension, nämlich wenn es darum geht, das Recht auf eine möglichst autonome Lebensführung, ein Grundanliegen von Menschen mit und ohne Behinderungen, und ein verbrieftes Recht laut Behindertenrechtskonvention, wirklich einzulösen.

Laut Schattenbericht gestaltet sich die Lebensführung von Menschen mit Behinderungen viel zu oft als kompliziertes und unsicheres Unterfangen. So als hätten Menschen mit Behinderungen zusätzlich zu ihren körperlichen und/oder mentalen Einschränkungen einen lebenslangen Hindernislauf zu absolvieren, der ihnen die gesellschaftliche Teilhabe doppelt und dreifach erschwert. Das fängt an mit der Geburt, wenn Eltern über Pränataldiagnostik, Fristen und fehlende fachliche Beratung verunsichert und verängstigt auf die Nachricht reagieren, sie könnten ein behindertes Kind empfangen, betrifft später das oft drängende Betreuungsproblem, weil nicht genügend fachlich qualifizierte Erzieher da sind, um ein behindertes Kind zu betreuen. Auch Eltern behinderter Kinder müssen arbeiten gehen. Bald folgt der schwierige Entscheidungsprozess, wo das Kind eingeschult werden soll. Und wie lange es in der Schule lernen kann. Weiterhin haben inklusive Schulen Seltenheitswert, der Zugang wurde zwar verbessert, auf Nachfrage können Methoden, Prüfungszeiten oder Schulmaterialien (in Braill-Schrift) bereitgestellt werden, aber die gesetzlichen Anpassungen betreffen meist Kinder mit körperlichen Einschränkungen, jene mit mentalen bleiben in der Regel außen vor, erst recht wenn es um weiterführende Studien geht. Das hat unmittelbare Folgen für den beruflichen Werdegang, für einen Großteil der Menschen mit Behinderungen bleibt eine reguläre Anstellung unerreichbar, weil (private und staatliche) Unternehmen die gesetzliche Quote nicht erfüllen; sei es weil eine behindertengerechte Gestaltung von Arbeitsplätzen ausbleibt. Um diese Benachteiligungen wirksam abzustellen, müssten Betroffene systematisch und ernsthaft eingebunden werden, was aber zu oft nicht geschieht.

Die Autorinnen haben alle diese Stationen analysiert – und hatten dabei selbst Hürden zu überwinden. So stellte sich die Beschaffung von Daten und verlässlichen Statistiken über Menschen mit Behinderungen und ihre Lebenswirklichkeit als schwierig, oft sogar als unmöglich heraus. Ob das die Aufschlüsselung behinderter Arbeitnehmer nach Branchen und Domänen betrifft. Laut Arbeitsamt waren 2016 fast 4 000 Arbeitnehmer mit Behinderungen beschäftigt, davon rund ein Drittel in so genannten geschützten Werkstätten. Oder die reale Anzahl praktizierender Gebärdendolmetscher. Der Staatenbericht verweist stolz auf die Möglichkeiten einer Übersetzung in Gebärdensprache, verschweigt aber, dass es sich um eine Person für ganz Luxemburg handelt. Den Gebärdendolmetscher im Parlament sieht man auch kaum mehr.

Unklar ist zuem, wie viele öffentliche (und private) Bauten barrierefrei gebaut respektive umgebaut wurden. Dass ausgerechnet das neue Universitätsgebäude in Esch-Belval sich Hightech-Fahrstühle ohne Braille-Schrift leistet und der Weg vom Bahnhof bis zur Uni kein behindertengerechtes Leitsystem aufweist, ist ein Armutszeugnis. Es fehlen systematische Schulungen zu den Rechten Behinderter für Sozialarbeiter, Pflegepersonal, Gefängniswärter... Sogar Daten, die aufgrund ihrer Brisanz verfügbar sein müssten, wie die Gesamtzahl von behinderten Menschen, die unter gerichtlicher Vormundschaft stehen, waren trotz mehrmaliger Anfrage nicht zu bekommen. Eine Reform des Vormundschaftsrechts steht bei den Behindertenorganisationen seit vielen Jahren ganz oben auf der Wunschliste. Rund die Hälfte aller gerichtlicher Vormundschaften, so steht es im Alternativbericht, betreffen Menschen mit Behinderungen. Die Zahl dürfte also in die Hunderten gehen. In Luxemburg geht mit der Entmündigung automatisch der Verlust des Wahlrechts einher, ein Grundrecht, das in einem demokratischen Rechtsstaat eigentlich nur unter genau definierten beschränkten Bedingungen entzogen werden darf. Heiraten oder eine Lebenspartnerschaft einzugehen, benötigt das Einverständnis des Vormundschaftsrichters. Zudem dauern Vormundschaften, obgleich als provisorische Schutzmaßnahme gedacht, bei Menschen mit Behinderungen nicht selten ein ganzes Leben. Weil es kaum Programme zu Self-Empowerment gibt, verharren viele Menschen mit Behinderungen quasi ein Leben lang in Stagnation und Abhängigkeit. Wie bevormundend manche Entmündigung erlebt wird, verdeutlicht der Bericht eines Zeugens, der nach einem Unfall mit einer Behinderung leben muss: „Ich bin 54 Jahre alt und fühle mich auf fünf Jahre zurückgesetzt.“ Zwar hat das Justizministerium im Rahmen der Totalrevision des Familienrechts eine Reform des Vormundschaftsrechts angekündigt, doch der Gesetzentwurf liegt noch nicht vor und es scheint angesichts der fortgeschrittenen Zeit wenig wahrscheinlich, dass die Reform in dieser Legislaturperiode kommen wird.

Dieser und weitere Versäumnisse, wenn es um die Rechte von Behinderten in Luxemburg geht, wird denn auch in der sogenannten List of issues des Genfer UN-Behindertenrechtskomitees aufgelistet, die das Familienministerium vergangene Woche zugeschickt bekam und die dem Land vorliegt. Darin werden unter anderem Erläuterungen zu fehlenden Statistiken und Daten (etwa was die Schulbildung, ausstehende Gesetzesreformen wie die lang angekündigte Überarbeitung des Barrierefreiheits-Gesetzes oder Schulungen im Umgang mit behinderten Mitmenschen angeht). Mehrere Fragen betreffen die Sicherheit und den Schutz von Menschen mit Behinderungen sowie ihre Beteiligung an politischen Entscheidungen, die sie betreffen (was die allermeisten sein dürften).

Auf Nachfrage, was in der Zwischenzeit, seit dem Verschicken des Länderberichts nach Genf 2014 vom Aktionsplan umgesetzt wurde und ob es eine aktualisierte Liste mit den eingeleiteten und erledigten Maßnahmen gibt, verweist die verantwortliche Koordinatorin Sandy Zoller darauf, dass man dabei sei, sich mit den Behindertenorganisationen und den Ministerien kurzzuschließen, um ein Update zusammenzustellen. Einen öffentlichen Austausch hierzu hatte es zuletzt im Mai vor einem Jahr gegeben, als die zuständige Familienministerin Corinne Cahen (DP), Schulminister Claude Meisch (DP) und Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) zu einer Konferenz einluden. Allerdings war das Echo danach gemischt, insbesondere Betroffene waren eher frustriert, weil Vertreter aus anderen Ministerien entweder nicht erschienen waren, oder die Auskunftsfreude auf Nachfragen sich in Grenzen hielt, berichtet Patrick Hurst von Nëmme mat eis. Inwiefern es ein weiteres Treffen geben wird, konnte Zoller nicht sagen. Eine Übersicht, die das Ministerium eigentlich haben müsste, wollte sie nicht herausgeben. Dass es auskunftsfreudiger geht, zeigt das Transportministerium: Auf Anfrage schickte dessen Pressebeauftragte eine Liste aller im Ressort geplanten Aktionen für mehr Barrierefreiheit.

Erklären müssen wird sich die DP-LSAP-Grüne-Regierung spätestens im August in Genf. Bis dahin bekommen die Betroffenen die Gelegenheit, sich noch einmal zur Liste zu äußern, auch eine Pressekonferenz ist geplant. Höhepunkt wird sicher die kontradiktorische Anhörung von Betroffenen, NGOs und Regierungsvertretern im Herbst in Genf. Das wäre eine weitere Gelegenheit für einen echten Dialog auf Augenhöhe.

Das Monitoring der UN-Behindertenrechtskonvention

Luxemburg hat die UN-Behindertenrechtskonvention 2007 unterschrieben und am 28. Juli 2011 ratifiziert. Damit verbunden ist die Selbstverpflichtungeinen nationalen Aktionsplan zur Förderung der Rechte und Interessen von Menschen mit Behinderungen aufzulegenwas noch unter der CSV-LSAP-Regierung im selben Jahr geschah. Behindertenvertretungen bemängeltendass die im Aktionsplan genannten Maßnahmen zu vage blieben und Budget sowie Fristen nicht verbindlich genug waren. Auch seien sie nicht ausreichend in die Beratungen eingebunden gewesen.

Weil der Aktionsplan 2016 ausgelaufen istsoll ein Monitoring kläreninwieweit die Aktionen die Lage von Menschen mit Behinderungen konkret verbessert haben. Dazu legt zunächst der jeweilige Staat der UN einen Bericht vor (hierzulande koordiniert vom Familienministerium). Zudem bekommen Organisationen und Betroffene die Gelegenheiteigene Evaluationen vorzulegen. Einer davon ist der Schattenberichtder im Auftrag der Behindertenselbsthilfevertretung Nëmme mat eis erstellt und im Dezember nach Genf geschickt wurde. Am 14. März fuhr eine fünfköpfige Delegation auf Kosten des Familienministeriums in die Schweizum den Alternativbericht zu erörtern. Zusätzlich wird die Menschenrechtskommission einen Bericht vorlegender ist aber noch nicht abgeschlossen und für JuniJuli geplant ist.

Auf Grundlage der Berichte hat das UN-Behindertenrechtskomitee länderspezifische Fragen gestellt. Die sogenannte List of issues beinhaltet für Luxemburg 41 Punkte zu allen möglichen Themenfeldern. Auch die Behindertenorganisationen können Fragen stellen. Im August dann muss sich die Regierung selbst vor dem Gremium erklären; auf Grundlage der Berichte und der Anhörungen werden die UN-Behindertenrechtsexperten dann Empfehlungen für Luxemburg formulierendie in einen weiteren Aktionsplan einfließen sollen. ik

Ines Kurschat
© 2024 d’Lëtzebuerger Land