„Das ist eine gute Sache.“ Die ältere Dame, die aus dem Gebäude des Fonds de solidarité kommt, also von dort, wo Bedürftige ihren Antrag auf Revenu minimum garanti (RMG) einreichen, hat aus der Zeitung von den Änderungen erfahren, die Familienministerin Corinne Cahen (DP) diese Woche vorstellte: Aus dem RMG soll künftig das Revis werden, das Revenu d’inclusion sociale. Zudem soll der Kinderzuschuss deutlich angehoben werden (siehe Kasten).
Das Zauberwort lautet Aktivierung. Jeder „arbeitsfähige“ RMG-Empfänger, wie Corinne Cahen am Montag auf der Pressekonferenz betonte, soll künftig einen – deutlich reduzierten – Grundbetrag erhalten und einen „Aktivierungsvertrag“ unterzeichnen. Bei Antragstellung wird geschaut, ob die Person realistische Chancen hat, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden und daher von der Arbeitsverwaltung Adem, oder, falls ihre Probleme tiefer liegen, vom Office national d’inclusion sociale (Onis, heute: Service national d’action sociale, Snas) betreut werden soll.
Nimmt er oder sie an einer von Adem oder Onis vorgegebenen Maßnahme teil, gibt es mehr Geld. Als Anerkennung ihrer Anstrengung und zur Motivation. Empfänger, die mehr als zehn Stunden zusätzlich zum RMG arbeiten, sollen zudem 25 Prozent ihres hinzuverdienten Einkommens behalten dürfen. Bisher zogen sie daraus keine finanziellen Vorteile. „So lohnt sich Arbeit nicht“, beschrieb Cahen den Nachteil des aktuellen Systems. Werden in einem Haushalt beide erwachsenen RMG-Empfänger aktiv (aktuell kann nur einer RMG bekommen), stünde ihnen deutlich mehr Hilfe zu.
„In der Schweiz, wo ich eine Zeit gelebt habe, gibt es diese Anreize seit vielen Jahren“, sagt die Dame vor der FNS-Verwaltung. Eine Gegenleistung zu verlangen sei richtig. Der junge Mann, der auf dem Weg zum Mittagstisch der Stëmm vun der Strooss im Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist, sieht die Regierungspläne dagegen mit Sorge. Er beziehe RMG, weil er „in einer schweren persönlichen Krise fast alles verloren“ habe. So groß sei seine Not gewesen, dass er eine Zeit im Foyer Ulysse wohnen musste. „Heute habe ich ein eigenes Zimmer und suche Arbeit. Die Adem versucht zu helfen, aber es gibt kaum Jobs für Leute wie mich, die keine Ausbildung haben und auf der Straße waren. Ich verstehe, wenn viele da die Hoffnung aufgeben.“
„Wir holen die Menschen da ab, wo sie sind“, versuchte Cahen am Montag Einwände zu zerstreuen, Langzeitarbeitslose könnten die Verlierer der Reform sein. Menschen mit, wie es im Jargon der Sozialarbeit heißt, multiplen Problemlagen, weil sie obdachlos, drogenabhängig, psychisch krank oder hoch verschuldet sind, würden auch therapeutische und soziale Maßnahmen angerechnet. Das können Gemeinschaftsarbeiten sein, wie die Pflege öffentlicher Parkanlagen oder Autobahnen, oder ein Drogenentzug in der Klinik. Man sei dabei, mit Ministerien, Gemeinden und Vereinen Beschäftigungsmöglichkeiten auszuloten, so Cahen. Mit dem deutschen System prekärer Ein-Euro-Jobs sei der Ansatz mitnichten zu vergleichen: Wegen der deutlich höheren Kompensierung (berechnet auf Basis des unqualifizierten Mindestlohns) und weil die Gemeinschaftsarbeiten im staatlichen und parastaatlichen Bereich entstünden. Wer sich jedoch einer Maßnahme wiederholt verweigert, bekommt das Revis zunächst drei Monate lang um 20 Prozent gekürzt, danach würde es komplett gestrichen.
Was die DP-Ministerin als neuen Versuch anpreist, Revis-Bezieher „nicht nur in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sondern auch in die Gesellschaft“, ist in der Sozialpolitik ein alter Hut. In den USA wurde in 1970-er Jahren mit workfare-Programmen versucht, Langzeitarbeitslose zu „reaktivieren“. In Europa findet die Philosophie vom „aktivierenden Sozialstaat“ seit Mitte der 90-er Anhänger, seitdem Sozialleistungen wegen sinkender Geburten, einer steigenden Lebenserwartung, steigender Arbeitslosigkeit und aus Spargründen europaweit unter Druck stehen.
Um staatliche Hilfe zu bekommen, erbringen arbeitsfähige Empfänger eine Gegenleistung, indem sie an Wiedereingliederungsmaßnahmen, an Fortbildungsprogrammen und Fördermaßnahmen teilnehmen. Ziel ist es, den Hilfe-Berechtigten so fit zu machen, dass er oder sie nicht länger auf staatliche Unterstützung angewiesen ist und für seinen Lebensunterhalt wieder selbst aufkommt. Bei vielen RMG-Empfängern klappt das auch. Für sie bleibt der Bezug von Sozialhilfe eine Episode in ihrem Lebenslauf. Die Zahlen zeigen aber auch, dass ein großer Teil gibt, der jahrelang in der Hilfe „hängenbleibt“.
Theoretisch könnten hilfeberechtigte Menschen mit therapeutischen, psychosozialen und gesundheitlichen Maßnahmen stabilisiert und allmählich für den Arbeitsmarkt „fit“ gemacht werden. Die Erfahrunge lehrt aber, dass Langzeitarbeitslose und Menschen mit multiplen Problemlagen nicht mit ein paar Interventionen zurück in Arbeit geführt werden können. Hintergründe sind teils tiefe persönliche Krisen, die sich mit der Dauer des Hilfebezugs verschärfen können, aber auch Krankheit und Behinderung. Die Ministerin verspricht zwar, problematische Fälle würden künftig besser betreut, dafür werde der Personalschlüssel im Onis heraufgesetzt. Wer also meint, beim aktivierenden Sozialstaat geht es darum, radikal Staatsausgaben zu kürzen, irrt: Das Konzept bedeutet eher mehr Staat als weniger, denn mit dem Ausbau an Förderprogrammen und Maßnahmen sind Kosten verbunden. Gleichzeitig erhöht der Staat die Kontrolle.
Dahinter steht ein Leitbild, das den Mensch als arbeitswillig, leistungsorientiert, funktionstüchtig versteht, der für sein Leben selbst verantwortlich ist. Für die Betroffenen bedeutet das mehr Rechenschaft und Druck einerseits. Andererseits kann es dazu führen, dass sie neue Gestaltungsmöglichkeiten bekommen. Das klappt aber nur, wenn Fördermaßnahmen nicht als – paternalistische – Mittel zum Zweck (Reintegration in den Arbeitsmarkt) konzipiert sind, sondern mit dem Betroffenen zusammen geplant und umgesetzt werden. Und Raum für Rückschläge bleibt. Dadurch, dass ein Teil der Hilfe nur ausgezahlt wird, wenn der Empfänger aktiv wird, steigt das Risiko von Willkür, weil es auf die Einschätzung des Sozialarbeiters ankommt.
Arbeitslosigkeits-, Unfall-, und Krankenversicherung wurden einst geschaffen, um gewisse Risiken wie Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit aufzufangen und ein stückweit von Stigma zu befreien. Eigenverantwortung lässt sich von Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, die vielleicht suchtkrank oder somatische und psychologische Probleme haben, nicht einfach fordern. Interviews mit Arbeitslosen zeigen: Anhaltende Arbeitslosigkeit und Leben in Armut verändern das Selbstbild oft negativ. Misserfolge entmutigen, führen zu Frustration und Resignation. Und oft zum Rückzug.
Dabei gerät aus dem Blick, dass der Arbeitslose oft nichts für seine Arbeitslosigkeit kann: Sei es wegen konjunktureller Einbrüche und Firmenschließungen oder weil im Hochlohnland Luxemburg die Nachfrage nach Facharbeitern steigt, ordentlich bezahlte Jobs für Niedrigqualifizierte oder Menschen mit Brüchen im Lebenslauf dagegen rar gesät sind. Auch die ausgeklügeltsten Aktivierungsprogramme helfen da nur bedingt: Sie schaffen keine Stellen, sondern höchstens Plätze in Beschäftigungsprogrammen und in staatlich subventionierten Arbeitsmaßnahmen, die kaum zum Lebensunterhalt reichen. Womit die Armutsfalle fest zuschnappt.