Es regnet und ist kalt. Gerade noch war der Hauptbahnhof von Luxemburg-Stadt wie leergefegt, jetzt scheint er dunkle Menschenmassen förmlich auszuspucken. Männer und Frauen mit hochgeschlagenen Kragen und Regenschirmen hasten über den Vorplatz, in umliegende Büros, zum Bus, der sie zur Arbeit bringt. Pierre wartet mit hochgezogenen Schultern und nur mit einem dunkelblauen Kapuzenshirt, Jeans und Turnschuhe bekleidet vor der verschlossenen Tür eines Nebengebäudes des Bahnhofs und reibt sich die kalten Arme. „Ich muss mich aufwärmen“, sagt der Mann fröstelnd, der seinen richtigen Namen nicht nennen will. „Ich komme von der Frühschicht.“ Es ist acht Uhr in der Frühe, wie jeden Wochentag öffnet das Parachute gleich die Türen. Fabien Reeff, der verantwortliche Sozialarbeiter, schließt von innen auf. „Guten Morgen“, grüßt er freundlich.
Das Parachute ist ein sozialer Treffpunkt am Bahnhof. Die zwei kleinen, mit Neonlicht erhellten Räume (im vorderen Teil befinden sich drei Stehtische und ein Tresen, im hinteren ein Büro) besucht, wer sich aufwärmen will, wer einen Schlafplatz oder Informationen benötigt. Oder eine Tasse dampfenden Kaffee oder Tee wie Pierre. Und der alte Mann in der Ecke, dessen Schuhe so ausgelatscht sind, dass sie seine sockenlosen hornigen Fersen entblößen. „Sie kommen nach Luxemburg, um zu arbeiten, oft auf Baustellen. Meist haben sie nicht das Geld, um sich eine Wohnung zu leisten. Dann schlafen sie bei Kollegen oder im Nachtasyl – in der Hoffnung, bald genug für ein Zimmer zu verdienen“, sagt Reeff, während er routiniert den Filter mit Kaffeepulver füllt. Die silber-glänzende Kaffeemaschine und den Wasserkocher hat die Thierry-van-Werveke-Stiftung spendiert, Tee und Kaffee – zwischen drei bis vier Kilo pro Woche – bezahlt die CFL.
Viele Besucher sind es an diesem Mittwochmorgen nicht. Zwei Gäste streiten lautstark über den Tod eines Drogendealers, der diese Woche nach der Festnahme durch die Polizei verstarb. „Die Bullen waren zu brutal“, behauptet einer. „Pass auf, was du sagst. Der Dealer hatte Kokain verschluckt. Es heißt, eines der Päckchen im Magen sei geplatzt und er sei an einer Überdosis gestorben“, mahnt Reeff. Neuste Nachrichten und Gerüchte aus der Szene gibt es hier ebenfalls gratis. Es riecht nach Kaffee und nach klammer Kleidung. Das Nachtasyl der Winteraktion auf dem Findel öffnet abends um 19 Uhr und schließt morgens um neun. Ein Pendelbus bringt die Gäste in die Stadt. Wer einen Platz am Tresen sichern will, nimmt den öffentlichen Transport. Prinzipiell ist die Besucherzahl im Parachute aus Sicherheitsgründen auf zehn bis zwölf begrenzt. Ist der Andrang groß, müssen die Erstgekommenen den Stuhl für Neuankömmlinge räumen.
Sicherheitsüberlegungen sind ein zentrales Motiv, warum die CFL das Pilotprojekt, das im Rahmen einer europäischen Zusammenarbeit entstanden ist, in Kooperation mit der Stadtverwaltung gestartet hat. „Es mit einem sozialen Angebot zu verbinden, drängte sich auf“, erzählt Daniel Frising. Der Eisenbahner mit den raspelkurzen Haaren ist verantwortlich für die Sicherheit am Bahnhof; er verwaltet das Parachute, noch: Ende Januar geht er in den Ruhestand. „Sicher spielt der kommerzielle Gedanke eine Rolle. Gäste sollen einen Bahnhof vorfinden, an dem sie ungestört ihrer Wege nachgehen können“, räumt Frising freimütig ein. In Esch soll dieses Jahr eine weitere Anlaufstelle öffnen, im darauffolgendem Jahr in Ettelbrück. Die CFL sucht noch Sponsoren.
Der Bahnhof ist von jeher Treffpunkt und Drehscheibe für alle Arten Reisende, auch jene, die durchs soziale Netz gefallen sind. Ihnen bietet das Parachute, zu deutsch: Fallschirm, eine Anlaufstelle. Hier im Nebengebäude, das die CFL zur Verfügung stellt, sind sie aus dem Blickfeld und zugleich zentral untergebracht. „Das Bild hat sich verändert. Früher gab ein, zwei stadtbekannte alte Obdachlose. Heute ist die Szene größer, jünger und leider auch härter“, sagt Frising. 1 250 Leute besuchten den Treffpunkt allein im November. Im März 2016, nach der Eröffnung, waren es 200 gewesen; die Adresse hat sich mittlerweile herumgesprochen. Die Mehrheit der Besucher ist männlich. Es sind Wohnungslose, Arbeitslose, Flüchtlinge oder sonstwie Gestrandete. Frauen kommen selbst zu Stoßzeiten eher selten. „Ich weiß nicht, warum das so ist“, sagt Frising achselzuckend.
„Moiën, Maurice“, ruft der CFL-Mitarbeiter einem Mann mit dunkler Haut- und Haarfarbe zu. Auch er ist ein Stammkunde, der nahezu täglich vorbeischaut. „Du musst Dich noch entschuldigen“, legt Sozialarbeiter Reeff dem Ankömmling freundlich, aber bestimmt nahe. „Du hast vor den Weihnachtsferien den Bahnhofsvorsteher bedroht“. „Er war betrunken wie sieben Eimer“, spottet einer am Tresen. Alkohol, Drogen und Gewalt sind im Parachute verboten. Wer gegen die Hausordnung verstößt, wird ermahnt. Im schlimmsten Fall fliegt er raus.
So wie gestern Nachmittag. Wegen eines Missverständnisses hatte ein Mann die Nerven verloren. Vereintes gutes Zureden konnte den Betrunkenen nicht beruhigen. Mit geballter Faust war er wankend auf einen Fotografen losgegangen, als dieser seine verletzte Hand fotografiert hatte, weil der Mann die Aufforderung des Sozialarbeiters nicht verstand, Besucher, die nicht fotografiert werden wollten, mögen dies im Vorfeld sagen. Er sei kein Bettler, rief er aufgebracht auf Französisch. Mit stieren Augen und unter lautem Zähneknirschen stand der Mann im Raum und stieß wüste Drohungen aus, obwohl ihm der Fotograf mehrfach versichert hatte, das Bild längst gelöscht zu haben. Manchmal ist eine Berichterstattung, ohne versehentlich voyeuristisch zu wirken, eine heikle Gratwanderung. Erst als der Sozialarbeiter ihn unter Körpereinsatz in Richtung Ausgang drückte, regte sich der Wüterich allmählich wieder ab.
„Du brauchst Nerven, um das zu machen“, sagt Fabien Reeff nach dem Gerangel und fügt erklärend hinzu: „In der Szene nennen sie ihn den Metzger. Er saß schon wegen Körperverletzung.“ Gefährliche Situationen frühzeitig zu erkennen und zu entschärfen, erfordert gute Menschenkenntnis. Die Stadt Luxemburg, die Reeffs Stelle finanziert, bietet Fortbildungen im Konfliktmanagement. Außerdem tauscht sich der Sozialarbeiter regelmäßig mit den Streetworkern aus, die im Parachute planmäßig vorbeischauen. Grundsätzlich sind zwei Mitarbeiter vor Ort. Reeff wirkt mit seinen Rastahaaren, den Ohrsteckern und dem T-Shirt mit bunter Aufschrift umgänglich und gutmütig. Er kann aber auch anders, dann ruft er mit lauter Stimme renitente Gäste zur Räson.
Meistens bleibt es jedoch friedlich, familiär. „Da ist er ja“, ruft Daniel Frising aus dem angrenzenden Büro herüber. Ein kleiner Mann mit roten Kopfhörern, der die Pudelmütze tief ins Gesicht gezogen hat, spaziert herein. „Ich habe eine Arbeit“, erzählt er stolz jedem, der es hören möchte. Colabor, eine Beschäftigungs- und Wiedereingliederungsinitiative wolle ihn einstellen. Längst nicht alle haben solches Glück. „Ich hab’ meinen Job als Lieferant wegen meiner Prostata verloren“, erzählt ein Mann mit Pferdeschwanz und in seiner Stimme schwingt Bitterkeit. Wegen seiner Blase habe er auf Lieferfahrten wiederholt Rastplätze angefahren, um auf Toilette zu gehen. Bis sein Chef ihn rauswarf. „Die Klinik will mir aber keine Operation bezahlen“, ruft er wütend aus.
Auch Fabien Reeff hat erlebt, dass Kranken ohne Versicherung die Behandlung verweigert wurde. „Ich hatte kürzlich einen, der hatte sich ein Bein gebrochen. In der Notaufnahme wollten sie ihn nicht aufnehmen. Erst als ich dem Klinikpersonal drohte, sie wegen unterlassener Hilfeleistung anzuzeigen, wurde er behandelt.“ Besucher des Parachute sind oft arbeitslos und nicht krankenversichert. Selbst die freiwillige Versicherung von 70 Euro im Monat kann sich nicht jeder leisten. Um Arbeit zu finden oder um RMG zu beziehen, müssen sie in Luxemburg wohnhaft sein. Eine feste Adresse bekommt aber nur, wer einen Job oder mindestens fünf Jahre im Land gelebt hat. Ein Teufelskreis. Besonders für Flüchtlinge ohne Papiere und Menschen mit Sucht- und psychischen Krankheiten geht es oft ums nackte Überleben. Erst recht, wenn es kälter wird.
Manche werden nach dem Kaffee durchs Bahnhofsviertel ziehen, auf der Suche nach Geld für den nächsten Schuss. Seitdem die Polizei Drogendealer stärker kontrolliert, wandert die Szene nervös hin und her. Andere zieht es weiter, auf die Straßen der Stadt, nach Hollerich zur Stëmm vun der Stroos oder nach Bonneweg zum Foyer Ulysse. Manchmal verirren sich Touristen ins Parachute, weil sie es für ein Café halten. „Sie bekommen etwas zu trinken, dann schicke ich sie weiter“, sagt Reeff. Was auf den flüchtigen Blick wie ein lässiger Tresenjob wirkt, ist ernsthafte Sozialarbeit. Das Parachute bietet Erste Sozial-Hilfe: einen Platz im Nachtasyl, Adressen zur medizinischen Versorgung, ein Gespräch mit einem Sozialarbeiter. „Manchen reicht ein freundliches Wort, andere suchen Arbeit“, sagt Daniel Frising und zeigt auf einen Stapel ungefragt abgegebener Bewerbungen. „Vielen fehlt eine Ausbildung, oder sie haben kein einwandfreies Führungszeugnis.“
Auch Jugendliche kommen in den Treffpunkt. Weil sie kein Bock auf Unterricht haben oder nicht wissen, wohin. „Wir dürfen Schwänzen nicht unterstützen, das sähen die Schulen nicht gerne“, sagt Frising. Für junge Leute bis 30 Jahre gibt es Streetworker wie Yolanda Tortorelli von Caritas jeunes et familles. Sie sind morgens im Parachute, oder nachmittags nach der Schule und hören den Jugendlichen zu. Manche sind für Tipps dankbar, andere meiden den Kontakt. „Wir versuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ohne uns aufzudrängen. Das Parachute ist dafür ideal“, sagt Tortorelli. Die Streetworker organisieren Aktivitäten. Aber auch wer eine Lehrstelle sucht, oder es noch einmal mit der Schule versuchen will, findet Unterstützung. Ob es gelingt, die Weichen für eine bessere Zukunft umzustellen, hängt nicht zuletzt vom Willen und dem Durchhaltevermögen der Betroffenen selbst ab. „Wunder bewirken wir keine“, weiß Daniel Frising. „Aber wenn wir Menschen in Not ein Bett oder einen Ansprechpartner vermitteln können, dann ist das mitunter viel.“