„Nëmmen ee Land, dat kulturell existéiert, nëmmen ee Land, dat a seng kulturell Identitéit an a seng kulturell Multidiverzitéit investéiert, ass attraktiv.“ So befand der Premierminister im Namen der Regierung am 8. Mai 2012 in seiner Erklärung zur Lage der Nation.
Die rund 70 Wissenschaftler, die zurzeit in der Forschungseinheit Ipse an der Fakultät für Kultur- und Geisteswissenschaftender Universität Luxemburg auf dem Campus in Walferdingen an den rund 50 Luxemburg-bezogenen Projekten arbeiten, sind überzeugt, dass ihre Forschung dem Land zugutekommt. Genauso, wie die Forschungen in den Bereichen Finanzwissenschaften, Informatiksicherheit, Biomedizin, europäisches Recht und multikulturelle Pädagogik, die im zweiten Vierjahresvertrag zwischen Uni und Regierung zu Forschungsprioritäten erklärt wurden. Am Beispiel Luxemburgs werden in diesen Projekten Probleme untersucht und Konzepte entwickelt, die weit über die Landesgrenzen hinaus auf Interesse stoßen, weil sie an Luxemburger Beispielen und im interregionalen Vergleich und im interdisziplinären Zugriff Grundlagenforschung betreiben und keineswegs Nabelschau, wie der Begriff Études luxembourgeoises (EL) vielleicht meinen lassen könnte. Damit ist der Begriff „Luxemburg“ im weitesten Sinn des Wortes zu verstehen, das heißt nach heutigen Maßstäben trans- und metanational und somit auch in Perioden zurückreichend, in denen es noch kein Luxemburg gab.
Die Projekte stammen aus den neuen Laborato-
rien der Forschungseinheit IPSE; häufig sind zwei oder mehrere Disziplinen daran beteiligt. Und neuerdings kamen auch Signale, dass selbst die Rechtswissenschaften sich daran beteiligen möchten. Vielleicht gelingt es demnächst auch, die Wirtschaftswissenschaften dafür zu gewinnen. Ipse bedeutet auf Latein „selbst“, „an sich“. Ipse steht aber in diesem Fall auch für Identités. Politiques, sociétés, espaces. In der Tat beschäftigen sich viele Projekte mit Identitätsforschung, mit Veränderung, mit kultureller Diversität und mit räumlichen Dimensionen der Luxemburger Gesellschaft.
Aus der Breite der unter diesem Siegel firmierenden Projekte sei ein gutes Dutzend in der Folge kurz umrissen. Diese weite Bandbreite ist zweifellos eine Stärke der Luxemburg-Studien, auch wenn dadurch das Profil des Programms vielleicht weniger scharf konturiert ist als bei anderen Forschungsprioritäten der Uni Luxemburg.
Der Luxemburgische Familiennamenatlas, unter der Leitung von Peter Gilles, erstellt im Internet Karten mit der Verbreitung und ein Nachschlagwerk mit der etymologischen Herleitung der in Luxemburg verbreiteten Familiennamen1. In der Luxemburgistik ist auch das Projekt von Ane Kleine-Engel angesiedelt, die Sinn und Bedeutungswandel in der luxemburgischen Phraseologie untersucht. Das Projekt Webatlas (Koordination: Malte Helfer) hat einen digitalen, multidisziplinären, interaktiven und dynamischen Atlas der Großregion entwickelt, mit Karten aus allen möglichen Disziplinen, die man kombiniert aufrufen kann2. Eine neue Funktion ermöglicht in verschiedenen Karten – zum Beispiel bei den Grenzverschiebungen in der Großregion von 1815 bis heute – das stufenlose Surfen auf der Zeitschiene.
Hérold Pettiau zeichnet verantwortlich für die Fortführung der Forschungen über das mittelalterliche Lotharingien, die seit 1980 zunächst am Centre universitaire, seit 2003 an der Universität Luxemburg gemacht werden und alle zwei Jahre in die Journées Lotharingiennes münden. Das Projekt Editio von Michel Margue und Michel Pauly besorgt die kritische Edition der Urkunden Johanns des Blinden als Graf von Luxemburg. Anfang Oktober 2012 war es in Rom an einer großen internationalen Tagung aus Anlass des 700. Jahrestages der Kaiserkrönung Heinrich VII. aus dem Hause Luxemburg beteiligt, die die europäische Rolle der Luxemburger Kaiser untersucht hat.
Die Germanisten unter Leitung von Georg Mein und Till Dembeck gehen der Konstruktion von Identität in multilingualer Literatur nach, wie sie in Belgien, Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden vorkommt. Claudio Cicotti leitet ein Projekt über literarische Texte von Italienern, die sich in der Großregion niedergelassen haben; des Weiteren werden die Briefe an die ehemalige RTL-Sendung „Buona Domenica“ ausgewertet. Das Projekt Villux, das nun schon in seiner neunten Antragsphase ist, beschäftigt sich unter Leitung von Martin Uhrmacher mit der Stadtgeschichte im Raum Luxemburg und in Zukunft mit der kartografischen Darstellung der Städte im Mittelalter und der Frühen Neuzeit.
Christian Schulz leitet das Projekt Metroborder, bei dem es um die Governance in grenzübergreifenden, polyzentrischen Metropolen-Regionen geht, wie etwa in der hiesigen Großregion, in der Region um Basel oder um Wien-Bratislava. Das vom Nationalen Forschungsfonds FNR geförderte Projekt Partizip behandelte in seiner ersten Phase die Nationenbildung und den Aufbau demokratischer Strukturen in Luxemburg von 1789 bis 1940 im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. In der zweiten Phase hat es seine Forschungen auf die Zeit nach 1940 ausgeweitet.
Das Projekt Ident (Koordination: Rachel Reckinger und Christian Wille), an dem alle Laboratorien der Forschungseinheit Ipse beteiligt waren, beschäftigte sich mit Identitätskonstruktionen in Luxemburg, mit Selbst- und Fremdbildern, der Rolle von Sprachen und Alltagskulturen und erstellte erstmals eine „Karte“ der soziokulturellen Milieus in Luxemburg. Seine auch für andere Länder modellhaften Ergebnisse sind mittlerweile in drei Sprachen in ausländischen Verlagen erschienen. Das Nachfolgeprojekt Ident 2 unter Leitung von Markus Hesse und Sonja Kmec untersucht den Einfluss von Grenzen auf Raum- und Identitätskonstruktionen.
Terres rouges ist ein Projekt, das aus historischer und literarischer Sicht auf die Minette-Gegend blickt. LiFraLu untersucht den Platz der frankofonen Literatur in Luxemburg innerhalb der internationalen Frankofonie. Die Musikologen betreiben zwei Projekte, die zum einen Luxemburger Komponisten aus dem 18. und 19. Jahrhundert aufstöbern und zum anderen dem Gesamtwerk von Laurent Menager eine kritische Edition widmen. Lux-Id hat untersucht, wie die Kriegsgeneration, die Bauern, die Schmelzarbeiter und die Migranten ihre Erfahrungen an die nächste und übernächste Generation weitervermittelt haben.
Seit dem Frühjahr liegt ein erster Band in der Buchreihe Luxemburg-Studien im Peter Lang Verlag Frankfurt vor, nämlich Christian Willes Dissertation über Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux. Unterwegs sind ein Tagungsband über das Nation building in Luxemburg im internationalen Vergleich im 19. Jahrhundert, die Dissertation von Vincent Artuso über Kollaboration oder besser Assimilationstendenzen in Luxemburg während des Zweitens Weltkriegs (siehe auch d’Land 11.11.2011) sowie die Habilitationsschrift von Tobias Chilla (Erlangen) über Territorialisierte Europäisierung.
Die Veröffentlichung in einem internationalen Wissenschaftsverlag sichert unseren Forschungen internationale Sichtbarkeit. Schon seit Jahren publiziert das Centre luxembourgeois de Documentation et d’Études médiévales (Cludem) Bücher und Tagungsbände aus dem Bereich der mittelalterlichen Geschichte, die im Rahmen von EL-Projekten entstanden sind. Auch der Binsfeld-Verlag hat in seiner neuen Buchreihe Open Science schon zwei Bücher aus EL-Projekten veröffentlicht. Da diese Produkte nicht alle das EL-Etikett tragen, mögen sie zum Teil nicht als solche erkennbar sein. Hauptsache dürfte jedoch der Inhalt sein. Seit Gründung der Universität wurden beziehungsweise werden über 40 Dissertationen in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern geschrieben, die einen Bezug zu Luxemburg haben.
Die Geisteswissenschaften machen keine Erfindungen zur unmittelbaren Verbesserung der Lebensqualität. Doch sie tragen dazu bei, die Gesellschaft zu verstehen, den Sinn bestimmter Entwicklungen zu erkennen, die kulturelle und soziale Realität kritisch zu begleiten – und damit das Zusammenleben zu verbessern. Wir beanspruchen eine analytische Kompetenz, keine normative, nicht einmal in der Linguistik, wie das gelegentlich von der Universität verlangt wird. Angst macht ja nur das Unbekannte. Was ich kenne, damit lerne ich umzugehen. So kann ich lernen, dass Identitäten, kollektive wie individuelle, nichts Ewiges, nichts Unabänderliches, nichts Naturgegebenes sind, nichts was jeder gleich sieht oder empfindet. Deshalb drehen sich viele EL-Projekte um Identitätskonstruktionen. Deswegen ist auch die aktuelle Ausstellung im oberen Stockwerk des Museums Dräi Eechelen ein interdisziplinäres Produkt der Études luxembourgeoises der Uni Luxemburg. Herrn Junckers Wunsch, dass Forschung einen Nutzen für das Land haben möge, dürfte somit in Erfüllung gehen, auch wenn dieser Nutzen nicht immer in ökonomischen oder finanziellen Kategorien messbar ist.
Peter Feist
Kategorien: Forschungspolitik, Innovation
Ausgabe: 26.10.2012