Als er fortgegangen war, fragten mich die Leute: „Wer war der Braune, der so stramm gerudert hat?“ „Kennt ihr den nicht? Das war René Deltgen.“ (...) „Der junge Escher“, sagte ich, „der in Köln Schauspieler ist.“ „Aha“, machte einer beflissen, „ich weiss, ich habe von ihm gehört.“ – (...) Aber alle fanden, dass der Braune ein „feiner Kerl“ war, Weil er so stramm gerudert hatte und überhaupt ... (Aus Jong Hémecht, 1932)
Schon 40 Jahre bevor er einen kauzigen Großvater, den Alp-Öki in den Heidi-Filmen der 70-er Jahre, geben sollte, mauserte er sich an deutschen Bühnen und in Ufa-Filmen zum Star. „Seine Paraderollen waren die des charmanten Liebhabers oder des skrupellosen Abenteurers“, liest man heute über ihn im Netz. Der Escher René Deltgen machte eine außergewöhnliche Karriere: Im Alter von 18 Jahren ging er 1927 an die Kölner Schauspielschule, sammelte dort am Theater drei Jahre Bühnenerfahrung, kam an die Städtischen Bühnen in Frankfurt und erhielt 1935 seine erste Rolle bei der Ufa. Nach zahlreichen Erfolgen wurde er 1939 in Berlin zum „Staatsschauspieler“ ernannt. Bis 1943 sollte er an verschiedenen Bühnen in Berlin und in zahlreichen Filmen spielen und schließlich nach Luxemburg zurückkehren. Überwogen in den ersten Jahren seiner Karriere in Luxemburg noch Stolz und Begeisterung über seine Bühnenerfolge, so wichen nach und nach Enttäuschung bis hin zu öffentlicher Empörung – insbesondere in Kreisen von Widerstandskämpfern – darüber, dass Deltgen sich auf deutschen Bühnen unter Hitler „hochgespielt“ hatte.
Ende November 1945 wurde Deltgen wegen des Verdachts auf Landesverrat der Prozess gemacht. Vorgeworfen wurden ihm insbesondere zwei öffentliche Aufrufe an die Luxemburger Bevölkerung für den Anschluss an das Dritte Reich. Zwei Jahre Gefängnis und 100 000 Franken Geldbuße sowie die Aberkennung Verlust der Luxemburger Staatsangehörigkeit, lautete zunächst das Urteil. Doch im Laufe der Jahre wurde Deltgen rehabilitiert: Die Haftstrafe sollte er nur zum Teil absitzen, die Staatsangehörigkeit wurde ihm 1952 wieder zuerkannt. Späte Gerechtigkeit oder „Schwamm-drüber-Mentalität“?
Das gespaltene Verhältnis der Luxemburger zu dem Leinwandhelden wird im Rückblick vor allem an der kontroversen Berichterstattung in den Tageszeitungen deutlich. War sie anfangs fast medienübergreifend noch getragen von zustimmendem Enthusiasmus, so wich sie Skepsis bis hin zu Anschuldigungen, insbesondere im Escher Tageblatt. Nach ersten Bühnenerfolgen in Deutschland wurde Deltgen in Luxemburg regelrecht gefeiert. Vor allem das Luxemburger Wort publizierte überschwängliche Artikel über ihn. Zeitungen aller Couleur attestierten ihm eine außerordentliche Bühnenpräsenz und „eine Ausstrahlung wie eine Bombe“. Das Luxemburger Wort bezeichnete ihn gar als „René Bonaparte“. „Er muss sozusagen in der Luft liegen, unser René. Er ist zweifellos derjenige Luxemburger, der im Ausland in der Welt der Künstler den stärksten Widerhall weckt“, schrieb Batty Weber (Luxemburger Zeitung, 24. März 1937), seit den frühen Anfängen ein Bewunderer Deltgens, obschon selbst gegenüber dem NS-System und der Annäherung Luxemburgs an Deutschland kritisch eingestellt.
Die Auszüge aus Zeitungsartikeln und Akten las im Kasemattentheater1 charaktervoll der Schauspieler Ulrich Kuhlmann. Er hatte einst am Staatstheater Stuttgart und am Zürcher Schauspielhaus gearbeitet, wo er als junger Schauspieler Deltgen noch persönlich kennenlernte. Die Artikel aus dem Tageblatt, der Obermosel-Zeitung oder dem Luxemburger Wort stehen sich in ihrer Wertung zum Teil diametral entgegen und belegen die widersprüchliche Wahrnehmung des Escher Schauspielers.
Das öffentlich mehrheitlich positive Echo schwang um in vernichtende Kritik; nach einer Rolle in dem Ufa-Film Starke Herzen (1937) wurde die Frage gestellt, wieso sich Deltgen für diese Rolle hergab. Im Gegensatz zum Wort stand das Tageblatt Deltgens Rolle in der NS-Propagandamaschinerie – darunter auch seine späteren Rollen in den Propagandafilmen wie Mein Leben für Irland (1940/41) oder Fronttheater (1942) – ablehnend gegenüber. „Auch mit René Deltgen können wir uns nicht mehr einverstanden erklären. Er hat in dem Ufa-Film Starke Herzen eine Rolle angenommen, die er als Luxemburger unbedingt hätte zurückweisen müssen. Da er sie angenommen hat, dürfen wir uns in allem Ernste die Frage stellen, ob René Deltgen noch als Luxemburger zu betrachten ist“, empörte sich das Tageblatt bereits im Juni 1937.
Glühende Verehrer Deltgens wie auch er selbst sollten argumentieren, dass ihm durch die Verpflichtung bei Terra (einer der größten deutschen Filmproduktionsgesellschaften der 1930-er Jahre) die Hände gebunden waren und er sich seine Rollen nicht habe aussuchen können. Er habe „nur“ seine Arbeit gemacht, sollten enge Freunde und Schauspielkollegen immer wieder betonen. Klar wird in den vorgetragenen Zeitungsartikeln, dass der aus einer Bauernfamilie stammende Deltgen schon früh den Wunsch verspürte, Schauspieler zu werden und sich auf der Bühne zu verwirklichen: „Er ließ sich in seinem Vorwärtsdrang nicht beirren.“
Für den Star charakteristisch waren sein herausragendes Talent, der unbedingte Wille, sich künstlerisch zu verwirklichen, und schließlich das Geltungsbedürfnis eines Luxemburgers, der das Theater als den „Gradmesser der kulturellen Entwicklung eines Landes“ schlechthin begriff. „Der Schauspieler muss retten“ – Luxemburg habe diesen Kampf nicht gekannt, weil es bis dahin keine große Bühne hatte, las Kuhlmann aus Deltgens Aufzeichnungen. Bestand aber die einzige Möglichkeit, sich in den 1930-er Jahren als Schauspieler zu verwirklichen, darin, sich vor den Karren der (geistigen) Brandstifter des NS-Regimes spannen zu lassen? Selbst wenn Deltgen offenkundig kein sehr politischer Mensch war, so wird klar, dass seine Bewunderung für die kulturelle Entwicklung im Nachbarland groß war. „Es wurde oft gesagt, zumal in jüngster Zeit, dass wir in Dingen der Geistigkeit mit unseren grossen Nachbarn nicht Schritt hielten, weil wir als nationale Einheit uns nach langem Gezerre erst materiell, wirtschaftlich, innerpolitisch fundieren mussten und für das Transzendente der Kunst keine Zeit und keine Kräfte übrighatten“, schrieb die Jong Hémecht, 1932 und Batty Weber dokumentierte das klar in seiner Feuilletonserie, dem Abreißkalender.
Zum Verhängnis sollte Deltgen schließlich die Unterzeichnung des in Luxemburg veröffentlichten Manifests Heim ins Reich werden. Es wurde von 32 Luxemburger Persönlichkeiten unterschrieben und forderte den Anschluss an Deutschland – ein Aufruf, der in zahlreichen Zeitungen veröffentlicht wurde, darunter am 31. August 1940 im Luxemburger Wort: „Es ist eine schicksalsschwere und die Zukunft unserer Heimat auf immerdar bestimmende Stunde, in der wir Luxemburger an Euch herantreten. Der Luxemburger fühlt deutsch. Er ist Deutscher nach seiner ganzen Wesensart, nach Geschichte, Abstammung, Sprache und dem Raum, in den er hineingeboren ist. Auch seine lebenswichtigen Interessen weisen nach Deutschland. Darum muss er den Weg nach dem Reich aller Deutschen gehen. (...) „Deutschland könnte auf Luxemburg verzichten, Luxemburg kann nicht auf Deutschland verzichten“, unterzeichnet von René Deltgen. – Eine Unterschrift, von der Deltgen (nach den Aufzeichnungen des Spezialgerichts) nichts gewusst haben wollte. Es müsse sich um eine Fälschung gehandelt haben, sollte er später behaupten ...
Zur Verteidigung und als Zeugnis weniger seiner politischen Unschuld, sondern einer gewissen Naivität wird angeführt, Deltgen habe in keinen wirklichen Propagandafilmen gespielt und sei nie Mitglied der Volksdeutschen Bewegung (VDB) gewesen. Er habe geholfen, einen Luxemburger Pfarrer aus dem KZ zu holen, und er sei nicht zuletzt aus eigenen Stücken zurück nach Luxemburg gekommen, um sich von Anschuldigungen zu reinigen. Sein Kindermädchen habe bestätigt, dass Delt-
gen nie über Politik gesprochen habe. Alle Zeugen im Prozess räumten schließlich ein: Nie sei ihm ein „Heil Hitler“ über die Lippen gekommen; er habe das Luxemburgische grundsätzlich dem Deutschen gegenüber bevorzugt (gesprochen) und sei beim Singen der Luxemburger Nationalhymne stets aufgestanden. Zudem habe er sich für den mit einer Jüdin verheirateten Freund Joachim Gottschalk eingesetzt und auch trotz offiziellen Verbots an dessen Beerdigung teilgenommen.
War René Deltgen wie die schwedische Film-Diva Zarah Leander, die in zahlreichen NS-Propagandafilmen mitgespielt hatte und dies später in ihren Memoiren über sich selbst schreiben sollte, also nur „ein politischer Idiot“? War er ein Wolf im Schafspelz? Marlene Dietrich hat gezeigt, dass es grundsätzlich auch anders ging. Keine Wahl gab es natürlich nicht.
Doch vieles spricht dafür, dass ihm die schauspielerischen Ambitionen einfach weit wichtiger waren als eine politische und moralische Haltung. Während mit Entre chien et loup2 von Henri Wehenkel nun eine Studie erschienen ist, die die Kollaboration von Luxemburgern kritisch analysiert, fügte die Lesung Der Fall René Deltgen im Kasemattentheater Puzzle-Teile ineinander und lieferte ein vielschichtiges Bild eines Mannes, den man sicher nicht als Stereotyp eines „Kollaborateurs“ bezeichnen kann. Durch die verschiedenen Zeitungs- und Aktenauszüge ergibt sich vielmehr ein widersprüchliches Bild eines großen Schauspielers. Wirft bereits das Buch René Deltgen – Eine Schauspielkarriere3 einen sorgfältig recherchierten und kritischen Blick auf das Leben und Wirken des Schauspielers, so ist mit der Lesung im Kasemattentheater das Thema „Kollaboration“ erstmals auf der Bühne aufgegriffen worden – und zwar auf eine nuancierte Weise. Der Lesung gelingt es, den Schauspieler Deltgen als widersprüchlichen Menschen darzustellen, ohne das Urteil bereits vorab gesprochen zu haben oder es absichtlich auszulassen.