Chronisch erhobener moralischer Zeigefinger, schulmeisterliche Haltung gegenüber dem Publikum, Wunsch nach reduzierter Identifizierung mit den Figuren, Forderung nach objektiver Betrachtung der Zusammenhänge durch die gesteigerte Distanz zwischen Bühnengeschehen und Betrachter. Im Jahre 2018 reichlich überholte Mechanismen fundamentaler Kapitalismus-, Militarismus- und Nationalismuskritik: Mit dieser Kritik stehe ich nicht im Verdacht, ein Anhänger von Brechts epischem Theater zu sein.
So mag das Eingeständnis umso glaubwürdiger klingen, dass ich an Bernhard Eusterschultes Tart-Produktion Die Antigone des Sophokles Gefallen gefunden habe. Unterm Strich überzeugt die internationale Produktion von Temeswar, Heidelberg, TNL, Recklinghausen und Stuttgart sehr wohl. Einigen Stärken und Schwächen der Bühnenarbeit sei im Folgenden Aufmerksamkeit geschenkt.
In der Überarbeitung der antiken Schicksalstragödie, in der Antigone sich dem König und Kriegstreiber Kreon widersetzt, weil der Tyrann ihrem Bruder, dem vermeintlichen Staatsverräter Polyneikes, eine würdige Bestattung verweigert, wandelt der Augsburger Dichter den antiken Stoff in eine Tragödie um, in der nicht das Schicksal Herr über der Menschheit Los ist, sondern der Mensch Leid und Untergang selbst verantwortet. Brecht bedient sich Hölderlins Übersetzung selten im genauen Wortlaut: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts/ Ungeheurer als der Mensch.“ Den archaischen Schicksalsglauben in ein vom Menschen hervorgerufenes und durch den Menschen zu behebendes Leid umzudeuten, trifft sicherlich den Zeitgeist der Neuzeit. Doch diese hat nicht eben erst begonnen. Neu ist Brechts Botschaft keineswegs. Doch dies ist kein Ausschlusskriterium des Theaters.
Brecht ohne Verfremdungseffekte wäre nur schwerlich vorstellbar. Sie dienen laut Autor eben jener Distanzierung zwischen Zuschauer und Handlung, die eine emotionale Identifikation zu Gunsten sachlicher Analyse opfern soll.
Das Modell mag die Bühnenarbeiten des 20. Jahrhunderts beträchtlich beeinflusst haben, seiner Wirkung jedoch mangelt es an Glaubwürdigkeit und der Bereitschaft, den Zuschauer in seinem Vermögen ernst zu nehmen, Emotion und Kritikfähigkeit vereinen zu können. Pascale Noé Adam sorgt als Bühnenarbeiterin im Overall für letzte Absprachen mit der Technik, Nickel Bösenberg als Kreon zeichnet die Bewegungsgrenzen für seine Darsteller mit Kreide auf dem Bühnenboden ein, Roderik Vanderstraeten schafft breite Geräuschkulissen mit Gitarre und Klavier auf der Bühne selbst. Die Liste der V-Effekte in der ersten Hälfte des Bühnenabends ließe sich bis ins Endlose verlängern. Irgendwann haben alle die Botschaft verstanden: Seht her, es ist wieder Brecht-Zeit! Die Effekte sind weitestgehend fantasiereich. Doch sorgen sie nicht für die von Brecht eingeforderte Distanz, vielleicht, weil die Grundidee naiv ist. So mancher sorgt für gewitzte Komik, andere verlieren sich in der schieren Masse. Sobald dieser Schwall an Brechtiaden auf dem Weg in die zweite Hälfte heruntergefahren wird, gewinnt die Produktion an Fahrt, die Handlung an Kraft, gewinnen die Figuren an Tiefe.
Zusehends treten die wohler dosierten Handgriffe des Regisseurs inhaltlich in den Dienst der Geschichte um Recht und Gerechtigkeitsempfinden, um staatlichen Machtmissbrauch und Verschleiß an Menschenleben in einem ökonomisch motivierten Krieg.
Mit Oana Vidoni als Antigone, Steffen Gangloff als Hämon, Nickel Bösenberg als Kreon oder Germain Wagner als Teresias findet auch das gute Darstellerensemble seine mimischen Höhepunkte. Bösenbergs Wutausbrüche und seine seelische Zersetzung lassen die Stimmung inmitten einer Diktatur nachempfinden. Das aus resignierender Unterwerfung gärende Aufbegehren der Untertanen zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Dramaturgie. Hölderlins und Brechts Sprache unterstützen das apokalyptisch anmutende Ende. Schließlich übernimmt die anfangs regimetreue Party-Maus Ismene den vakanten Thron und lässt für die Zukunft Thebens wenig Besseres erahnen.
Auch die Einbindung des Publikums in das Geschehen wird als geschicktes Townhall Meeting inszeniert. Kreon und Antigone greifen zum Mikrofon und schmeißen sich ihre politischen Thesen und Vorwürfe einem politischen Schlagabtausch gleich vor die Füße. Die Zuschauer dazwischen, im Scheinwerferlicht, dürfen sich wahlweise als Teil des Volks oder aber als Begutachter staatspolitischer Dialektik verstehen.
Die Produktion ist stets unterhaltsam, mimisch überaus ergreifend, politisch und psychisch stark, doch zeigt es sich, dass die Regie dort an Augenmaß einbüßt, wo die V-Effekte eine gute Geschichte völlig überhäufen. Wo Brecht sich zurückzieht, ist ein insgesamt gut aufgelegter Eusterschulte herausragend.