Politiker im Rifkin-Rausch, selbst manche Unternehmer und so gut wie alle Kommentatoren, die sich zum Thema äußern, geben irgendwelchen ungenannten Experten die Schuld dafür, dass sie den Unterschied zwischen der dritten Industriellen Revolution und Industrie 4.0 nicht zu machen imstande seien. Wobei auch manche der Experten und vor allem Unternehmensberater Industrie 4.0 mit einer vierten Industriellen Revolution gleichsetzen, weil einem Teil ihrer Kunden die ständig verlangten Reformen nicht mehr ausreichen und sie inzwischen Gefallen an Revolutionen finden.
Die erste Industrielle Revolution begann Ende des 18. Jahrhunderts, angetrieben von der Dampfmaschine anstelle der umweltfreundiche Wasserkraft. Die zweite begann, angetrieben von der Elektizität, Ende des 19. Jahrhunderts. Die dritte Industrielle Revolution nahm Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Anfang, ihr Symbol ist der Computer. Was heute Industrie 4.0 genannt wird, hieß zuvor „Computer Integrated Manufacturing“, nur dass die computergesteuerte Produktion derzeit mittels des Internets weiterentwickelt wird, das nicht nur Menschen, sondern auch Investitionsgüter und Waren verbinden, vernetzen und verstricken soll.
Das in Deutschland gerne zitierte Gabler Wirtschaftslexikon stellt trocken fest: „’Industrie 4.0’ ist ein Marketingbegriff.“ Der Marketingbegriff „Industrie 4.0“ stammt aus deutschen Unternehmerkreisen und soll die Unternehmen, die Beschäftigten und die Politiker mit einem nach atemlosen Fortschrittsstreben klingenden Schlagwort mobilisieren. Während bei den um Arbeitsplätze und Arbeitsschutz bangenden Beschäftigten die Skepsis noch vorherrscht, auch wenn sie technische Entwicklungen für Naturgewalten halten, ist diese Mobilisierung bei den Politikern schon vollauf gelungen: „Die Wirtschaft steht an der Schwelle zur vierten industriellen Revolu-
tion. Durch das Internet getrieben, wachsen reale und virtuelle Welt zu einem Internet der Dinge zusammen. Mit dem Projekt Industrie 4.0 wollen wir diesen Prozess unterstützen“, versprach das sozialdemokratisch geführte deutsche Wirtschaftsministerium vergangenes Jahr.
So wurde „Industrie 4.0“ zum Titel eines staatlich unterstützten „Zukunftsprojekts“, mit dem die deutsche Regierung die Vormachtstellung der deutschen Exportindustrie festigen will. In anderen Industriestaaten wird der Begriff wenig gebraucht, beziehungsweise heißen vergleichbare Programme von Staat und Industrie anders. Weil die Automobilindustrie einen großen wirtschaftlichen und politischen Einfluss in Deutschland genießt, bezieht sich „Industrie 4.0“ stark auf Produktionsweisen, wie sie in der nach-fordistischen Automobilindustrie, aber nicht immer in anderen Industrien üblich sind.
In der vom Luxemburger Wirtschaftsministerium bei dem US-Zukunftsforscher Jeremy Rifkin gekauften Studie The 3rd industrial revolution strategy study for the grand duchy of Luxembourg geht genau einmal, in einer Fußnote, die Rede von „Industry 4.0“. In der von der Regierung zur wirtschafts- und sozialpolitischen Richtlinie erhobenen Kurzfassung dieser Studie wird Industrie 4.0 zwar nicht konkreter definiert als mit „smart solutions for the future of industry“ (S. 76), trotzdem verspricht sie in ihrem gewohnt euphorischen Ton: „Huge opportunities lie ahead that may allow the various players to dramatically increase their productivity and reduce their ecological footprint and the marginal cost of managing, powering, and moving economic activity across their value chains. Industry 4.0, 3D printing, virtual design, robots that learn on the job, and augmented reality work environments will benefit all of the key industrial sectors of Luxembourg“ (S. 79).
Inzwischen hat die Industriellenföderation Fedil eine „nationale Plattform Digital4Industry“ gegründet, die zur europäischen Initiative European Industry 4.0 gehört. Sie bietet damit ihren Mitgliedern eine „Informations-, Sensibilisierungs- und Netzwerksplattform“ an, die „Unternehmen in Themen der Industrie 4.0 fördert“. Die Gruppe Paul Wurth will in Hollerich am Standort der ehemaligen Kesselfabrik einen „Incub“ für 15 Start-ups im Bereich von Industrie 4.0 eröffnen. Ende des Monats organisiert die Handelskammer einen Charter-Flug zur Hannover Messe und kündigt an: „un focus particulier sera mis cette année sur la transformation numérique grâce aux technologies ‚Industries 4.0’.“
Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) hatte im Rahmen des Luxemburger EU-Ratsvorsitzes vor anderthalb Jahren eine internationale Konferenz über Industrie 4.0 organisiert, bei deren Eröffnung Premierminister Xavier Bettel (DP) warnte: „Si nous pensons que nous ne devons pas transformer notre économie par crainte de perdre des emplois, il faut se dire que d’autres réaliseront cette transformation, nous emmenant vers une impasse en matière de compétitivité.“ Gastredner Prof. Dr. Daniel Buhr von der Universität Tübingen meinte, Industrie 4.0 müsse als soziale Innovation verstanden werden, damit sie von weiten Teile der Gesellschaft akzeptiert werde. Denn sie betreffe nicht nur besser vernetzte Werkzeuge, sondern auch Menschen.
Vergangene Woche trafen die Sozialpartner auf Einladung des Wirtschaftsministers zum ersten Mal zusammen, um vorsichtig über die Rifkin-Studie und die darin beschriebenen sozialen Veränderungen zu reden. CSV-Präsident Marc Spautz kündigte vorigen Monat auf dem Landeskongress seiner Partei an, dass sie „im Mai ein Forum der Digitalisierung“ widmen wolle.
„Der Arbeitsmarkt steht in Folge der digitalen Revolution vor dem größten Umbruch seit Jahrzehnten“, heißt es in einer Resolution, die Ende März vom Landeskongress der einst zum Schutz des variablen Kapitals gegründeten LSAP verabschiedet wurde. „Der Wandel der Arbeitswelt infolge der digitalen Revolution wird sich in den kommenden Jahren rasant beschleunigen. Die Vernichtung bestehender Arbeitsplätze und die mögliche Verknappung des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsangebots im Zuge der Digitalisierung gehen mit der Schaffung neuer produktivitätssteigernder Arbeitsplätze einher.“ Prioritär seien die „soziale Absicherung von Lebensrisiken (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflege und Alterssicherung), die Vermeidung der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, der Einschränkung von Mitbestimmung, von digitaler Überwachung der Beschäftigten sowie der erhöhte Leistungsdruck und das Gefühl, ständig verfügbar zu sein“.
Die Unternehmen wollen selbstverständlich staatliche Zuschüsse und öffentliche Investitionen für die weitere Digitalisierung ihrer Produktion. Aber vor allem brauchen sie einen an die Technik angepassten gesetzlichen Rahmen, insbesondere im Arbeitsrecht und beim Datenschutz. Denn am Ende verspricht „Industrie 4.0“ nichts weniger als eine wunderbare Welt, in der das Kapital in all seinen Erscheinungsformen, die es während seiner Zirkulation durchläuft, von den Maschinen, den Rohstoffen, dem Halbzeug bis zu den Waren und dem mit ihnen erlösten Geld, das zum Teil wieder in die Produktion fließt, mit Sensoren, Sendern und Kabeln bestückt wird. Diese auf allen Buchstaben der Zauberformel G-W-G’ befestigten Sensoren, Sender und Kabel sollen den solchermaßen sensibel gewordenen Produktions- und Verwertungsprozess selbstständig so steuern und regeln, dass die Zirkulation des Kapitals beschleunigt und es so häufiger umgeschlagen werden kann, und Kapital auf seinem unter den Bedingungen der Marktkonkurrenz riskanten Weg keine Augenblick mehr bei Zulieferern, in der Produktion, bei der Lagerhaltung oder im Handel brachliegt.
Die Automatisierung, Robotisierung und Vernetzung führt dazu, dass die von Marcus Terentius Varro vor rund 2000 Jahren in Rerum rusticarum libri tres aufgezählte Trennung der landwirtschaftlichen Betriebsausstattung „in tres partes, ins-
trumenti genus vocale et semivocale et mutum“, in stimmbegabte Sklaven, in halbstimmbegabte Ochsen und in stumme Karren dabei ist, aufgehoben zu werden: Die LSAP-Europaabgeordnete Mady Delvaux kündigt in ihrem Bericht über Civil law rules on robotics zur Künstlichen Intelligenz (AI) an, dass „ultimately there is a possibility that in the long-term, AI could surpass human intellectual capacity“ (S. 5), der Karren klüger nicht nur als der Ochse, sondern auch als der Sklave wird. Schon heute werden Lagerarbeiter über Handscanner von Computern gesteuert, damit sie auf dem kürzesten Weg Waren aus Regalen beschaffen, und seit der Einführung des GPS ist inzwischen jeder Karren stimmbegabt und diktiert dem Sklaven die Autobahnausfahrt.
Nach der Abschaffung der Arbeiter durch das arbeitsrechtliche Einheitsstatut soll Industrie 4.0 der immer wieder angekündigte Todesstoß gegen Ricardos Arbeitswerttheorie sein. Als Begleitmusik darf Jeremy Rifkin Sharing Economy spielen.