Geister kommen in der Nacht wie die Träume, die angeblich Vergessenes mit Sehnsüchten vermengen. Lebendige und Tote treten nebeneinander auf und vollführen ein großes Familienschauspiel, die Präsenz des Vergangenen im Heute. Fast zehn Jahre hat Virgil Widrich an seinem Drehbuch für Die Nacht der 1 000 Stunden gearbeitet, im Januar eröffnete der Film in Saarbrücken das Max-Ophüls-Filmfestival. Die österreichisch-luxemburgisch-niederländische Produktion ist fantasievoll konzipiert, aber vor allem kunstvoll gedreht – und hat Humor. Ob ihr ein ähnlicher Erfolg beschieden sein wird, wie einst Widrichs Kurzfilm Copy Shop (2001), für den es Auszeichnungen hagelte und der prompt eine Oscar-Nominierung erhielt?
Kritik wird nicht ausbleiben. Denn Widrichs Filmset mutet zunächst bizarr an. Als der Familienrat einer betuchten Wiener Unternehmerfamilie tagt, verkeilt sich der Clan in Erbstreitigkeiten. Phillip Ullich (Laurence Rupp) soll das Unternehmen übernehmen, doch kurz bevor seine Tante die Unterschrift unter das Vermächtnis setzt, kippt sie tot um... glaubt man zumindest. Doch nur wenige Minuten später sitzt sie wieder am Tisch und mit ihr tauchen längst verstorbene Familienmitglieder auf. Großmutter, Großonkel und die früh und mysteriös verstorbene erste Frau des Großvaters, Renate (Amira Casar), eine 20-er-Jahre-Diva im feuerroten Hosenanzug, geben sich im alten Wiener Palais ein Stelldichein. Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen sukzessive zu einem Gemälde Wiens des 20. Jahrhunderts: Eine Collage aus historischen Ereignissen und schrägen Persönlichkeiten.
Einige seiner Figuren sind zudem Prototypen, wie Jochen (Lukas Miko), geradezu die Karikatur eines rechtsextremen, schlagenden Burschenschafters. Die Geister unserer Vorfahren, ihr Wirken und ihre Ideen persistieren über Jahrhunderte fort, scheint Widrich den Zuschauern mit seiner filmischen Zeitreise sagen zu wollen. Zugleich schafft er es, die Sinne zu täuschen und spielt mit der Zeit. Die Vergangenheit kommt zurück in das alte Wiener Palais und bildet Bezüge zur Gegenwart. Mittels zahlreicher Rückprojektionen erzeugen der österreichische Regisseur und sein Kameramann Christian Berger einen realistisch-phantastischen Effekt eines Hauses, in dem nahezu alle, die je seine Bewohner waren, auftreten.
Alte Telefongeräte, zugleich Symbol der Firma „Ullich & Cie“, prunkvolle Spiegel, ein Festsaal, in den die Herren feierlich mit Zylinder einkehren, lassen zwischenzeitlich sogar den Zeitgeist der K-und-K-Monarchie aufleben. Zugleich hängt, verkörpert durch die Person des Burschenschafters Jochen und die vermeintlich verfolgte Jüdin Renate, der Faschismus in der Luft. In Alpträumen, die mit dem Geschehen verschmelzen, jagt Burschenschafter Jochen den Helden Phillip Ullich mit einem Säbel, während sich auf dem Boden murmelnde verletzte Leiber räkeln. Da verwundert es nicht, dass für den Regisseur zu Beginn das biblische Bild des jüngsten Tages, an dem die Toten auferstehen und von Gott gerichtet werden, Motiv gebend war.
Widrich unternimmt mit Die Nacht der 1 000 Stunden eine Geisterbahnfahrt durch die Zeitgeschichte. Die Kunst steckt hier in der Liebe zum Detail. Die vielen Spiegel in den Zimmern, die Farbe grün als mit Menschen verbundene Symbolik. – Vieles an dem Film erinnert an Alfred Hitchcocks Klassiker Vertigo (1958) und doch hat Widrich seine ganz eigene Filmsprache. Sein Film feiert das Kino als visuelle Kunstform. In 92 Minuten kreiert er auf einer Bühne von sechs mal sechs Metern ein spannendes Kammerspiel, das nicht zuletzt durch großartige Schauspieler, darunter ehemalige Mitglieder aus dem Ensemble des Wiener Burgtheaters, beeindruckt. Aber auch der Part aus Luxemburg überzeugt: Josiane Peiffer als Marianne Wisek und Luc Feit als Wissenschafts-versessener Kauz Dr. Wisek, der als Toter den Tod überlisten will, amüsieren als schrulliges Paar. Anina Valle Thiele