Core-Tier-1 – was klingt wie die neueste aus den USA importierte Gymnastik-Methode zur besonders schmerzintensiven Straffung von Bauch-, Bein-, und Gesäßmuskulatur, ist in Wahrheit die neue Fitness-Formel für die globale Bankenwelt. Weil sich nach dem Höhepunkt der Finanzkrise relativ schnell die Einsicht durchsetzte, dass das Finanzsystem unterkapitalisiert war, sollte nachgerüstet werden. Um künftigen Bankinsolvenzen vorzubeugen, werden die Solvenzkriterien verschärft. Am Sonntag einigten sich die Finanzaufseher und Zentralbanken, die im Rahmen der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zusammenkommen, auf neue Kapitalmindestanforderungen für Kreditinstitute. Das neue Regelwerk, genannt „Basel III“, nach dem Baseler Komitee, das in der schweizerischen Grenzstadt tagt, ruft gemischte Reaktionen vor. Auch am Bankenstandort Luxemburg.
Im Zentrum der Reform steht die sogenannte Core-Tier-1-Kapitalquote, auch common equity genannt. Gemeint ist die hochwertigste Form von Eigenkapital, also Stammaktien und einbehaltene Gewinne, weil sie in Krisenzeiten verfügbar sind, um Verluste abzuschreiben. Unter dem derzeit gültigen Vorgängermodell Basel II müssen Banken über zwei Prozent hartes Kernkapital im Verhältnis zu den risikogewichteten Aktiva in ihren Büchern halten. Nach Basel III soll die Mindestanforderung auf 4,5 Prozent steigen. Die Tier-1-Quote, zu deren Berechnung neben Stammaktien und einbehaltenen Gewinnen auch „weichere“ Kapitalformen berücksichtigt werden dürfen, steigt von vier auf sechs Prozent. Die Kapitalquote insgesamt, zu deren Aufstellung noch softere Kapitalformen herangezogen werden dürfen, bleibt unverändert bei acht Prozent.
Zusätzlich fordern die Aufseher von den Banken, künftig einen Kapitalerhaltungspuffer von 2,5 Prozent hartem Kernkapital einzurichten. Dadurch steigen die Mindestanforderungen an Core-Tier-1-Kapital effektiv von derzeit zwei auf künftig sieben Prozent, was der Reform erheblich mehr Schneid verleiht, als es auf den ersten Blick scheint. Zwar dürfen Banken, deren Puffer unter die 2,5-Prozent-Marke sinkt, weiterarbeiten und müssen nicht sofort neues Kapital beschaffen. Doch, wie Claude Simon, Direktionsmitglied der Commission de surveillance du secteur financier, erklärt, können sie gezwungen werden, die Gewinne einzubehalten und weder Dividenden noch Boni auszuzahlen, bis ihr Puffer wieder aufgefüllt ist. Es ist der Versuch, das berüchtigte Kasino zu schließen. „Die Reform verfolgt den gleichen Ansatz, der auf EU-Ebene bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts angepeilt ist: In guten Zeiten soll gespart werden müssen, damit in Krisenzeiten Reserven da sind“, sagt Simon.
Welche Folgen das neue Finanzregelwerk auf den Bankenstandort Luxemburg mit seinen rund 150 Kreditinstituten haben wird, lässt sich derzeit nur schwierig einschätzen. Bis zum letzten Moment feilschten die Aufseher in Basel um jeden Prozentpunkt. Jetzt, wo klar ist, wieviel Kapital künftig Vorschrift ist, dürften sich die meisten Ban-kiers erst einmal intensiv mit dem Taschenrechner beschäftigen, um herauszufinden, wie sich das auf die eigene Situation auswirkt.
Doch Bankenaufseher Simon ist optimistisch, dass die in Luxemburg niedergelassenen Banken keine Probleme haben werden, sich der neuen Situation anzupassen. Müssen die Luxemburger Banken nachrüsten, neues Kapital in großem Umfang aufnehmen? „Nein“, sagt Simon. „Die Auswirkungen werden gering sein.“ Dass er so gelassen ist, liegt an der bisherigen Überkapitalisierung der Luxemburger Banken. Ende 2009 betrug die Solvenzrate im System 17,5 Prozent, davon 15,1 Prozent Tier-1. Und auch auf individueller Basis standen die Luxemburger Banken relativ gut da. Vergangenes Jahr erfüllten alle Banken die Solvenzmindestanforderung von acht Prozent. Lediglich sechs dümpelten im unteren Bereich zwischen acht und zehn Prozent herum. Ganze 44 Prozent hatten eine Kapitalquote von über 20 Prozent und 26 Prozent wiesen Raten zwischen 15 und 20 Prozent aus. Dazu kommt: Die Luxemburger Kredit-institute verfügen in erster Linie über Kapital der höchsten Güteklasse, also Core-Tier-1. Auch deswegen, erklärt Simon, werden sie weniger Schwierigkeiten bei der Anpassung haben, als andere Banken, die über viel Hybridkapital, also stille Beteiligungen oder (Wandel-)Anleihen verfügen und die Kapitalstruktur im Hinblick auf Basel III qualitativ umbauen müssen.
Eine rezente Studie der Zentralbank (BCL) bestätigt Simons optimistischen Ausblick ansatzweise. BCL-Forscher haben untersucht, wie sich verschiedene Schocks auf die Kapitalanforderungen im Luxemburger Bankensystem auswirken – allerdings nach den derzeit gültigen, weniger strengen, Basel-II-Kriterien.1 Unter anderem simulierten die Forscher die Entwicklung der Kapitalbasis unter dem Einfluss eines erneuten Abschwungs in der Eurozone (-1 Prozent im ersten und zweiten Quartal 2010, -0,5 Prozent im dritten Quartal 2010). Die Tier-1-Quote des Luxemburger Bankensystems würde von 11,7 Prozent im Basisszenario (ohne Schock) auf 6,4 Prozent fallen, berechneten die BCL-Forscher, damit immer noch über den derzeit verlangten vier Prozent liegen. Beruhigend ist vor allem, dass die fünf größten systemischen Banken Luxemburgs, die den Stresstests auch auf individueller Basis unterworfen wurden, mit ausgezeichneten Werten bestehen.
Dennoch dürfte die Basel-Reform nicht ohne Wirkung auf den Bankenstandort Luxemburg bleiben. Das Basel-Komitee selbst geht davon aus, dass Großbanken weltweit „erhebliche Mengen“ an neuem Kapital brauchen. Darunter sicherlich auch die ausländischen Mutterhäuser Luxemburger Banken. So gesehen bei der Deutschen Bank, die nach dem Motto, wer zuerst kommt, mahlt zuerst, keinen Tag abwartete, um eine Kapitalerhöhung von zehn Milliarden Euro anzukündigen.
Dem Beispiel der Deutschen Bank werden andere folgen müssen. Beispielsweise die in Luxemburg stark vertretenen und von der Krise ohnehin schon heftig gebeutelten deutschen Landesbanken. Ein Sprecher ihres Verbandes bezeichnete die Reform diese Woche als „regulatorischen Blindflug“. Die Landesbanken sind sauer, weil die stillen Beteiligungen, die einen großen Teil ihres Kernkapitals ausmachen, diesem künftig nicht mehr angerechnet werden. Dass die bisherigen Platzhirsche am Luxemburger Standort – unter den internationalen Banken bilden die deutschen die Mehrheit – im Zuge des unausweichlichen Umbaus dann auch ihre Auslandspräsenzen überdenken, liegt auf der Hand.
Auch die ABBL sorgt sich weniger um die direkten, als um die indirekten Folgen der Reform in Luxemburg. „Wenn man oben den Wasserhahn zudreht, kommt unten weniger Wasser heraus“, sagt Jean-Jacques Rommes, Direktor der Bankenvereinigung ABBL. Das Problem, das ihn umtreibt: Müssen die Banken, wie geplant, ihr Stammkapital ausbauen, bleiben ihnen künftig nur zwei Möglichkeiten: Erstens eine Kapitalerhöhung. Dann aber müssten die Banken bei – im besten Fall – gleichbleibenden Ergebnissen „mehr Kapital bedienen“, also einer größeren Anzahl an Aktionären Dividenden auszahlen, die dadurch dürftiger werden. Zusätzlich verschärfen dürfte sich die Wirkung, weil die zweite Möglichkeit, hochwertiges Kapital anzusammeln, darin besteht, die Gewinne zu behalten und nicht auszuzahlen, wozu dieBanken zum Aufbau ihres Puffers künftig auch gezwungen werden können. In jedem Fall dürfte der Wettbewerb um die Anleger steigen. Verschiedene Analysten erwarten, dass gut aufgestellte Häuser die Aktionäre bald mit steigenenden Dividenen umgarnen werden. Was ist mit denen, die nicht mithalten können?
„Die Rentabilität pro Aktie sinkt“, sagt Rommes. Dadurch werden Bankaktien als Anlageklasse unattraktiver. Genau zu dem Zeitpunkt, wenn die Banken neue Anleger suchen werden. „Die Investitionen in die Finanzindustrie werden dadurch mitsinken“, befürchtet der ABBL-Direktor. Das werde die Entwicklung der Branche, deren Wachstumspotenzial bremsen. Und damit auch die volkswirtschaftliche Entwicklung des von der Finanzindustrie abhängigen Luxemburg. Auch Claude Simon räumt ein: Die Rentabilität wird sinken. Was langfristig nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung der Steuereinnahmen aus dem Bankensektor bleiben dürfte. Doch gibt er zu bedenken: „Zwar werden in guten Zeiten weniger Gewinne gemacht. Dafür aber in schlechten Zeiten auch weniger Verluste.“ Zur Erinnerung: Im Krisenjahr 2008 hatten die Luxemburger Banken ein operatives Ergebnis von 5,877 Milliarden Euro ausgewiesen, davon aber 5,399 Milliarden Euro zurückgestellt, um Wertberichtigungen und Ausfälle zu decken.2 Viele Steuermillionen konnten damals auch nicht kassiert werden.
„Wir halten diese Reformen für notwendig, aber auch für ausreichend“, sagt Simon. Eventuelle Kritiker verweist er auf die langen Übergangsfristen, die das Baselkomitee beschlossen hat, um zu verhindern, dass die Banken, bemüht, möglichst schnell die neuen Kriterien zu erfüllen, die Risiken vermindern, sprich die Kreditvergabe einschränken und der Realwirtschaft den Geldhahn zudrehen. So werden die neuen Mindestkapitalanforderungen graduell eingeführt und erst 2015 in vollem Umfang gelten. Staatliche Kapitalspritzen, wie die, die BGL-BNP-Paribas vom Luxemburger Staat erhielt, sind sogar bis 2018 geduldet.
Alle Punkte der Reform, die im November dem G-20-Gipfel in Seoul vorgelegt werden soll, sind aber noch nicht geklärt. Weil die Kreditklemme von 2008 nicht nur ein Kapitalisierungs- sondern vor allem auch ein Liquiditätsproblem war, sollen 2015 beziehungsweise 2018 neue Messwerte eingeführt werden, mit denen die kurz- und langfristige Finanzierungssituation überwacht werden soll. So soll auch sichergestellt werden, dass beispielsweise von den Banken vergebene Kredite mit langen Laufzeiten entsprechend langfristig refinanziert sind. Die quantitativen und qualitativen Mindestanforderungen in diesem Zusammenhang stehen noch nicht fest und sind deswegen für Serge de Cillia, ABBL-Direktionsmitglied, weiterhin Anlass zur Sorge.
Im Grunde sollen die Banken zeigen, dass sie in ausreichendem Maß über Wertanlagen verfügen, die im Notfall schnell zu Bargeld gemacht werden können. „Welche Art von Papieren werden die Behörden als liquide und hochwertig einstufen?“, fragt de Cillia. Bisher galten Staatsanleihen im Allgemeinen als tip top. Doch im Jahr der Euro-päischen Schuldenkrise war der Markt nicht wirklich liquide und manche Anleihen von den Rating-Agenturen so oft heruntergestuft, dass sie auch qualitativ gesehen ausscheiden dürften.
De Cillia weist auch auf die Kosten hin, welche die neuen Regeln innerhalb der Institute verursachen werden. „Die Regeln werden immer komplexer.“ Da bleiben Investi-tionen in die internen Risikomanagement- und Compliance-Funk-tionen nicht aus. Beziffern kann das aber derzeit noch niemand. In einer 2008 und 2009 in Zusammenarbeit mit Deloitte durchgeführten Mitgliederbefragung kam die ABBL zum Schluss, dass die Luxemburger Banken seit 2006 im Schnitt zwei Millionen Euro investiert hatten, um mit der Regulation Schritt zu halten – 330 Millionen Euro für den Luxemburger Markt, davon 150 Millionen Euro wiederkehrende Kosten.
Allein für die Umsetzung der Basel-Richtlinien, die jetzt reformiert werden, hatten die Banken davor schon jeweils rund 1,9 Millionen Euro investiert. Seither verlange Basel II rund 650 000 Euro „Unterhaltskosten“ und weitere Investitionen von wiederum fast einer Million Euro. In Regulation: What is its impact on the Luxembourg financial industry? schrieb Deloitte-Partner Olivier Maréchal aber bereits, „paradoxerweise“ würden diese Ausgaben im Lichte der Finanzkrise immer stärker als strategische Investitionen erscheinen. Niemand könne den Nutzen von Stresstests in der Bankenbranche noch in Frage stellen. „The return on investment from certain regulations could turn out to be excellent – and at least, now we have an idea what poor risk management can cost.“
Jetzt allerdings fürchtet man wohl, dass die Initiativen über das Ziel hinausschießen könnten. Angesichts der Diskussion über einen Resolutionsfonds, der Reform der Einlagensicherung, eventuelle Banken- und Transaktionssteuern sagt Jean-Jacques Rommes: „Wir sehen einen generellen Trend, der vorgezeichnet wird und darauf abzielt, die Finanzwelt einzuschränken. Wenn das Wachstum in der globalen Finanzindustrie nicht mehr das Niveau erreicht wie vor der Krise, dann muss man davon ausgehen, dass auch in Luxemburg nicht mehr die gleichen Wachstumsraten verzeichnet werden.“