Der Verleger Jules Gay (1809-1883) war, zusammen mit seiner Ehefrau, der sehr aktiven Feministin Jeanne-Désirée Véret, militanter Sozialist. Er übersetzte Owens Outline oft the rational system of Society, brachte 1849 die Zeitung Le Communiste heraus, von der eine einzige Ausgabe erschien, und gehörte der Internationalen Arbeiterassoziation an, wo Karl Marx ihn in Die heilige Familie als einen der „wissenschaftlicheren französischen Kommunisten“ lobte. Zusammen mit den Anhängern des Anarchisten Michail Bakunin entfernte er sich dann aber von der Ersten Internationale.
Gay legte viel Wert auf die Gleichstellung der Geschlechter und den Kampf gegen die katholische und bürgerliche Sexualmoral. Aus dieser Haltung heraus verlegte er über 400 Werke erotischer Literatur und verfasste 1861 eine rund 35 000 Titel zählende Bibliographie des principaux ouvrages relatifs à l’amour, aux femmes, au mariage.
Als Sozialist und als Verleger teilweise pornografischer Schriften fühlte sich Gay gleich doppelt von der französischen Justiz verfolgt. Nachdem er im Mai 1863 wegen Obszönität verurteilt worden war, nennt 1864 das Colophon eines Nachdrucks von ALPHONSE dit l’impuissant. Tragédie en un Acte als Verlagsort „LUXEMBOURG, 1864“. Das 1740 erstmals erschienene Stück von Charles Collé (1709-1783), des „Corneille de la parade“, erzählt vom impotenten portugiesischen König, der binnen eines Jahres einen Thronfolger aufweisen muss, um seinen Thron zu behalten, und der seinen Premierminister losschickt, die Königin zu schwängern. Doch seit seiner Gefangenschaft in Byzanz ist der Premier ein Kastrat.
Gay flüchtete schließlich nach Brüssel. Doch auch in der liberalen Hauptstadt des jungen belgischen Staats traute er sich nicht, alle seine oft in kleinen Auflagen auf Luxuspapier oder gar Pergament gedruckten und zu Liebhaberpreisen ver[-]kauften Schriften unter seinem Namen zu veröffentlichen. Deshalb druckte er 1866 vier weitere Titel unter fiktiver Luxemburger Adresse, wie in 106 Exemplaren LA BULLE D’ALEXANDRE VI NOUVELLE IMITÉE DE L’ITALIEN, DE CASTI PAR F.-G.-J.S. ANDRIEUX DE L’INSTITUT NOUVELLE EDITION LUXEMBOURG IMPRIMERIE PARTICULIÈRE 1866, ein Gedicht über eine päpstliche Bulle, welche den Christinnen ein lebhaftes Liebesspiel vorschreibt, nachdem eine Baronin in Breslau unbemerkt von ihrem Mann während des Geschlechtsakts verschieden war.
14 pornografische Klassiker mit unmissverständlichen Titeln versammelt LES ENTRETIENS DE MAGDELON ET DE JULIE Traduction française de la PUTTANA ERRANTE, de P. Arétin suivis de La Tourrière des Carmélites La Source et Origine des Cons Sauvages, etc. Copie d’un Bail et ferme faicte par une jeune dame, etc. Pronostication des Cons Sauvages Sermon joyeux d’un Dépucelleur de Nourrices La Source du Gros Fessier des Nourrices, etc. Com[-]plainte de M. le Cul et Réponse de la Vertugale Traicté de Mariage entre Julian Péoger, etc. La Raison pourquoy les Femmes ne portent barbe Procès et amples examinations sur la vie de Caresme-Prenant LUXEMBOURG IMPRIMERIE PARTICULIÈRE 1866. Ein Nachdruck in 106 Exemplaren von Henri Pajons CONTES NOUVEAUX ET NOUVELLES NOUVELLES EN VERS A ANVERS 1753 trägt wiederum das Colophon „LUXEMBOURG IMPRIMERIE PARTICULIÈRE. 1866“.
Keine frivolen Gedichte, sondern eine historische Abhandlung über die Verehrung des männlichen Glieds und seines Fruchtbarkeitsgotts Priapos in 110 Quarto-Exemplaren enthält LE CULTE DE PRIAPE ET SES RAPPORTS AVEC LA THÉOLOGIE DES ANCIENS PAR RICHARD PAYNE KNIGHT SUIVI D’UN ESSAI SUR LE CULTE DES POUVOIRS GÉNÉRATEURS DURANT LE MOYEN AGE TRADUITS DE L’ANGLAIS, PAR E. W. LUXEMBOURG IMPRIMERIE PARTICULIÈRE 1866.
Obwohl er jedes Jahre mehrere Titel mit unterschiedlicher Ortsangabe veröffentlichte, gab Gay nach 1866 für zehn Jahre Luxemburg als Adresse auf. Bis er zwischen 1876 und 1878 in 300 Exemplaren eine achtbändige ANTHOLOGIE SATYRIQUE. Répertoire des meilleures poésies et chansons joyeuses parues en français depuis Clément Marot jusqu’à nos jours. PUBLIÉ PAR ET POUR LA SOCIÉTÉ DES BIBLIOPHILES COSMOPOLITES, LUXEMBOURG IMPRIMÉ PAR LES PRESSES DE LA SOCIÉTÉ veröffentlichte. Aber von bibliophil und kosmopolit war das reale Luxemburg zu jener Zeit weit entfernt.