Illegale Immigration, Prostitution, Gewalt und soziale Ungerechtigkeiten: Die Themen, die Roland Schimmelpfennig in seinem Stück Der goldene Drache behandelt, lassen den Zuschauer eine dramatische, schwere Sozialtragödie vermuten. Dank einer brillianten Schreibweise und einem gewagten Aufbau entpuppt es sich jedoch als spannender und zugleich komischer Vorabendkrimi. Verschiedene Geschichten und Schicksale von Bewohnern eines mehrstöckigen Wohnhauses über einem China-Imbiss werden zerstückelt und dem Publikum häppchenweise geboten, wie in einer Mini-TV-Serie. Immer dann wenn es aufregend wird und die Spannung steigt, schwenkt das Stück zur nächsten Episode. So entsteht im asiatischen Imbiss „Der goldene Drache“ ein Netzwerk miteinander verstrickter Schicksale: illegale Einwanderer, die der Gier und Brutalität einer kapitalistischen Gesellschaft zum Opfer fallen, zerbrochene Träume eines alten Mannes, unglückliche Paare, denen die Liebe durch die Finger gleitet … dann plötzlich ein blutiger Zahn in der asiatischen Suppe mit Zitronengras (scharf) einer oberflächlichen Flugbegleiterin! Die Erlebnisse rätselhafter Figuren – unter anderem eine brutaler Zuhälter (unheimlich, Petra Förster) oder noch ein verlorener, aussichtsloser Chinese (ergreifend, Catherine Janke) – werden geschickt und nahtlos zusammen geführt.
Das Stück hätte leicht zum kitschigen Gesellschaftsdrama werden können. Stattdessen schwankt der Zuschauer zwischen hellem Gelächter und tiefer Betroffenheit, zwischen Mitgefühl mit den absurden Figuren und ernsthafter Reflexion über die Missstände, die sich direkt vor unserer Nase befinden. Männer spielen emotionale Frauen, Frauen spielen harte Männer; die Realität wird wie in einem Wok durcheinander gewürfelt, mit Witz versüßt und mit Drama verbittert.
Stefan Maurer beweist Mut, indem er die Darsteller nie von der Bühne lässt, selbst zum Nachschminken oder Umziehen nicht. Alle fünf Darsteller sind großartig und erzählen mit Selbstironie und sichtlich viel Spaß ihre Geschichten in Sequenzen, die sich in rasantem Tempo abwechseln. Die anfangs leere Bühne wird zunehmend von Requisiten überfüllt, die Musik wird laut und hektisch, die Kostüme werden in Eile gewechselt – und trotzdem entgehen einem nicht die Feinheiten des Dramas und die subtilen, sozialkritischen Anspielungen. Immer wieder werden kurze Pausen eingelegt (und angesagt), die wie eine Prise Humor die Spannung schlichten.
Sebastian Herrmann schafft es selbst in einem Seidenmantel und Stöckelschuhen glaubhaft eine junge, misshandelte Asiatin emotional und packend darzustellen. Alle Darsteller nehmen ihre Rollen ernst und entgehen somit der Falle der Lächerlichkeit und der Überdramatisierung. Raoul Schlechter ist urkomisch und doch faszinierend als Flugbegleiterin mit einer seltsam perversen Begeisterung für einen faulen Zahn. Für den künstlerischen Leiter des Kasemattentheaters und Darsteller, Germain Wagner, ist es nicht die erste Zusammenarbeit mit Stefan Maurer (man erinnere sich an Mein Essen mit André) und hoffentlich nicht die letzte. So absurd und humorvoll die Charaktere auch sind, so unkonventionell und hektisch die Inszenierung auch ist, das Gesamtergebnis ist ein wahres Meisterwerk des gesellschaftskritischen Theaters.