Luxemburgensia

Leben an den Grenzen und Abgründen

d'Lëtzebuerger Land vom 05.01.2018

Philosophen wie Heidegger und Psychoanalytiker wie Freud und Lacan ermahnen uns, vom Dichter oder Schriftsteller zu lernen. Für den ist Schreiben ein Akt, durch den singuläre Erfahrungen mit dem Leben und selbst dem Schreiben, dem Realen, letztlich eine neue Bedeutung und Funktion erlangen.

In dem Sinne fand ich das erste Buch der Luxemburger Schriftstellerin Anne-Marie Reuter, On the edge, außerordentlich anregend. In ihren Kurzgeschichten beschreibt sie Grenzsituationen: an einem Rande, auf einer Kante oder einem Grat, vor einem Abgrund, das heißt vor etwas Traumatischem. Die Kurzgeschichten stellen Versuche dar, sich dem Offenen des Lebens zu stellen. Wagnis ist hier Stil. Reuters lebendige Sprache öffnet offen und näht das Unverständliche, die Leere, nicht zu.

Auch aus anthropologischer und psychoanalytischer Sicht scheint mir ein solches Unterfangen äußerst interessant. Nicht um das Theoriegebäude der Psychoanalyse auf den Autor anzuwenden, sondern zunächst um der Effekte willen, die solche Texte auf einen selbst haben. Der Leser wird zum Analysanden. Es berührt ihn zu lesen, wie die Figuren mit Leben, Beziehungen, Brüchen und Situationen, da ihnen der Boden unter den Füßen entzogen scheint und sie vor dem Nichts stehen, umgehen. Die Konfrontation mit dem „Sprechakt“ der Autorin bewegt uns, zumindest das eigene Begehren betreffend, zu assoziieren und sich Einfällen auszusetzen. Dies ermöglicht auch zu sehen, wo die unterschiedlichen Sichtweisen von Literatur und Psychoanalyse in der Bearbeitung der Grenzen und dem Unmöglichen sich begegnen.

In der Geschichte „Worst-case scenario“ erzählt eine Autorin, wie Schreiben sich bei ihr entwickelt. Eine Situation, ein Detail, ein Charakterzug berührt sie, bringt Phantasmen in Bewegung. Rasch wird sie sich auch ihres Blickes bewusst, den sie sehend oder schreibend konstruiert. Und dieser Blick stellt sich ebenso vor ethische Fragen. In der „Banalität des Alltags“ befinden wir uns schnell in der Grenzsituation (Jaspers), in die Intimität anderer einzudringen. Etwa, wenn man ein Haus zum Kauf besichtigt und der Blick auf Medikamente auf einem Nachtisch wie auch auf ein Buch mit dem Titel Leben mit dem Krebs fällt. Wir sehen, woran es dem anderen mangelt, wie das Treibhafte sich bemerkbar macht. Dann ist man nahe am Subjekt eines anderen, der sich möglicherweise zwischen zwei Signifikanten wie Leben und Krebs befindet.

Der Blick wird auch da thematisiert, wo ein geschiedener, ehemals „perfekter“ Gatte und Vater seinen Kindern beim Verlassen der Schule nachschaut. Das Auto so zu platzieren, um den richtigen Blickwinkel auf die Kinder zu haben, ermöglicht ihm die Erinnerung an die eigene Tragik als Schüler, die Identifikation mit dem Sohn. Vor allem ermöglicht es auch den Blick des Vaters, sein Vatersein, trotz aller Abwesenheit aufrecht zu erhalten. Die Funktion des Vaters lässt sich eben nicht auf einen Zeitrahmen, etwa die Wochenenden beschränken. Man bleibt Vater, auch wenn man nicht „perfekt“ ist.

Mehrfach zeigt die Autorin uns, wie Worte eine Situation umrahmen und konstituieren. Dabei zeigt sie auch, wie Sprechakte ein bisher unterdrücktes Begehren verbalisieren und schließlich zum Bruch führen können. Etwa wenn der Ehemann zu der Tanzlehrerin sagt: „How nice it is to dance with a beautiful woman for a change.“

Sprache braucht aber als Gegenüber auch Stille. Herrlich zeigt Anne-Marie Reuter dies dort, wo der Lehrer, während er zu seiner Klasse geht, imaginär das Klackern seiner Schuhe benutzt, um ein Gefühl von Eigenständigkeit, Identität und Differenz zu den Schülern und Kollegen zu bekommen. Ihn nervt das Anhören der heutigen psychologisch und soziologisch gestützten Diskurse – um es kurz zu machen – zu Motivation und Demotivation von Lehrern und Schülern. Er macht, was man mit solchen Diskursen tun muss, er durchlöchert sie symbolisch: „blah,blah, blah“. Die Klasse kommt nicht. Eine Erfahrung mit Stille, dem Nichts, Realem wird möglich. Ein anderer Bezug zum Laut und zum Hören kann sich möglicherweise bilden.

Es gibt auch Grenzsituationen, die eigentlich Sackgassen darstellen, aus denen wir nur nur Ruckwärtsgehen herauskommen. Und hier und da ist es zu spät. So geschieht es Ray. Er befindet sich in dem bürgerlichen Leben, mit dem kapitalistischen Diskurs, wo das „Leben“ nur durch den Konsum neuer Konsumgüter weitergeht. Ein solches Leben seiner Familie zu ermöglichen, ist seine Aufgabe. Bis das Geld knapp wird. Seine Schuld also! Weder Tochter noch Ehefrau können aus dem Diskurs aussteigen. Noch nachdem Ray die Situation klar dargestellt hat, kommen sie nicht aus dem ewigen Kreisen um das Objekt Konsumieren heraus. Im Todestrieb gefangen, nennt man das. Sich Grenzen setzen, Unmögliches, Mangel akzeptieren und über Möglichkeiten ins Gespräch zu kommen, funktioniert in dieser Familie nicht. Sprechen und Mangel, Genießen mit Begehren artikulieren, all dies hängt zusammen. Freud nannte es Kastration. Wie anders ist da der Blick und die Freiheit einer Miss Gina, obwohl sie in bescheidenem Rahmen lebt!

Sich von Diskursen, dem Blick des Anderen, dem „Sich-verstricken“ in Aufgaben, selbst altruistischer oder narzisstischer, aufgeblasener Ziele zu befreien, ist nicht evident. Ebenso ist es mit Institutionen. Schön zeigt die Autorin, wie das Erregt- und Verliebtsein auch in der Konfrontation wächst. Insofern kann man von „school for life“ sprechen. Schule ist immer eine Institution, die sich zwischen bildenden und neurotisierenden Effekten situiert, also einen Raum wie auch eine Hürde für die Subjektivierung darstellt.

Oft bedarf es eines Dritten, um uns von Traumatisierendem zu befreien. Ein Wort, das man in einer Vitrine eines Cafés gegenüber der Kirche in Calais liest, kann jemanden dazu bewegen, aus einer Position der Unterwerfung, der Alienation in eine Position des Aktivwerdens, des Subjektes zu wechseln.

Ist das Fremde eine Sache des Blicks oder des Seins?, fragt die Autorin. Sie gibt die Antwort in ihrer letzten Story „Dear me“. Oder liest das sich etwa „deer me“? Die Transformationen am eigenen Körper, das Geweih, das auf dem Kopf der Erzählerin hervorkommt, lässt sie zweifeln, was sie ist. Sie lässt das Animalische, das Triebhafte, das Fremde, das Exzesshafte in sich zu. Das Subjekt ist immer gespalten. So wie Begehren und Liebe nie ganz in Übereinstimmung zu bringen sind. Diese Spaltung, wie die Bewegung von Signifikant zu Signifikant, oder das Wechseln von Positionen, sind die Bedingungen, um dem Leben treu zu bleiben. Ja, wenn sich etwas in unserem Unbewussten verändern soll, muss sich etwas in der Struktur ändern. „Life is about change“, schreibt Anne-Marie Reuter. Hier formuliert sich eine „Ethik des Lebens“.

Die Autorin geht, wie das Kurzgeschichten entspricht, zuweilen sparsam mit Worten und Erklärungen um. Warum, kann man nur vermuten. Würde man es ihr als Leser oder Rezensent vorwerfen, fiele man leicht in die Übertragung und setzte den Autor an die Stelle desjenigen, dem man das Wissen unterstellt. Diesen Platz scheint mir die Schriftstellerin gerade nicht einnehmen zu wollen. Das ist auch nicht die Funktion der Literatur. Mit ihrer Art zu schreiben, gibt sie dem Leser einen Platz als Subjekt, das seinen eigenen Assoziationen zu den Situationen nachgehen kann.

Der sprachliche Umgang mit den „abîmes ordinaires“ (Millot) enthält sich psychologischer oder moralischer Interpretation der handelnden Personen. Es ist voller Respekt gegenüber dem, wie sich Menschen angesichts von Mangel, Leid, Freude, Liebe, dem Begehren und Genießen verhalten. Diese ethische Dimension des Buches ist für mich auch ein Zeichen der literarischen Qualität des Umgangs mit der Komplexität des Menschen als Sprach- und begehrendes Wesen.

Anne-Marie Reuter hat mit diesem Buch viel gewagt. Vielleicht hat für sie das Schreiben eine ähnliche Bedeutung wie für Catherine Millot? Diese schreibt: „Êcrire, c’était m’efforcer de me tenir aux abords des abîmes, au plus près de cette faille, de ce point de tourbillon (...) où je tentais de tenir la bascule. (…) Je rêvais d’un élargissement définitif : naître (…) .“

Der Autor ist Dozent und Forscher an der Universität Luxemburg. In seiner Lehre wie in seinen Forschungsarbeiten geht es ihm um einen jeweils psychoanalytischen Blick auf unterschiedliche Felder und Diskurse. Zurzeit arbeitet er an Projekten zur Ethik des Lehrers und zur Vermittlung von Werten, zum Schulabbruch, zum Feld „Tutoring and Mentoring“ wie auch zur psychoanalytischen Interpretation von Filmen.

Anne-Marie Reuter: On the edge. Black Fountain Press, 2017. 15 Euro, ISBN 978-99959-998-0-3
www.blackfountain.lu. Siehe auch unsere Kritik im Land vom 23. Juni 2017.

Jean-Marie Weber
© 2023 d’Lëtzebuerger Land