Einst war Differdingen eine Stadt im pulsierenden Herzen der Stahlindustrie. Und wenngleich die Wahrzeichen wie der Hadir-Tower sukzessive aus dem Stadtbild verschwinden und ein gigantischer Konsumtempel seit Neuestem die kaufkräftige Mittelschicht anlocken soll, künden einige historische Gebäude, wie der alte Bahnhof, noch von den glorreichen Zeiten. Von der Avenue de la Liberté aus blickt man noch heute auf die erhabene Kulisse des Stahlwerks. Ein Ausblick, der seit hundert Jahren fast unverändert geblieben ist und von dem auch noch alte Schwarzweiß-Fotografien auf Postkarten aus einer anderen Zeit künden. In dem kleinen Minendorf Lasauvage unweit der französischen Grenze kursiert die Sage um die wilde Frau, ein Wesen, das sein Unwesen in dem Ort treibt, seit Jahrhunderten. Der Zeichner Marc Angel hat diese beiden Sujets – den historischen Stoff und die Sage – gewählt und verschmilzt sie in Schichtwiessel miteinander zu einem spannenden Comic.
Den historischen Ausgangspunkt bilden die Arbeiterstreiks 1912 in Differdingen. Am 26. Januar 1912 kam es vor dem Portal des Stahlwerks zu einem Streik italienischer Arbeiter. Als die Situation zu eskalieren drohte, gab der sozialistische Bürgermeister Emile Mark einen Schießbefehl. Die Folge: vier Tote, darunter ein 13-jähriges Kind. In der Kneipe „op der Zowaasch“ entlädt sich der Zorn der Luxemburger Arbeiter über ihre italienischen Kameraden. Sie befürchten, dass der Streik ihre Situation nur noch verschlimmern wird. Die Stimmung ist aufgeheizt, der Ton rau („Ech soen Iech, déi Italiener kommen nëmmen heihi fir Onrou ze stëften!“), und würde sich nicht ein Fremder beschwichtigend einmischen, der die Arbeiter darin bestärkt, sich zu wehren, so käme es zur Schlägerei. Denn die Vorurteile der Luxemburger gegenüber den Italienern sitzen um die Jahrhundertwende tief. Zugleich skizziert Angel in Schichtwiessel die Annäherung zwischen dem jungen Öslinger Pitt und dem Italiener Luigi, die gemeinsam in der Mine schuften, sich ein Zimmer teilen und Freunde werden.
Das Konzept, geschichtliche Fakten mit lokalen Legenden zu verbinden, hat Marc Angel schon bei seinem ersten Comic über Useldingen angewandt. In Schichtwiessel habe man einerseits diese ganz prosaische Welt der Minenarbeiter mit allem, was da dranhänge, und andererseits etwas Märchenhaftes. Für den Zeichner war es auch grafisch eine Herausforderung, diese Elemente miteinander zu verbinden.
Dass die Comic-Zeichnungen, insbesondere Differdingens, verblüffend detailreich gearbeitet sind, dürfte auch daran liegen, dass der Künstler ausreichend historische Fotografien zu Grunde legen konnte. Der Hobby-Historiker Roby Fleischhauer, mit dem er sich vorab beraten hatte, versorgte Angel mit Bildmaterial. Dass es aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausreichend präzises Fotomaterial gibt, habe das Zeichnen der Kulisse(n) vereinfacht, bestätigt Angel.
Seine Figuren lassen unverkennbar die Handschrift des Zeichners von De Jas erkennen. Die Arbeiter tragen in der Kneipe Schiebermützen, die Helme der Grubenarbeiter wirken wie aus der Verfilmung von Zolas Germinal. Die Italienerin zeichnet Angel als rassige Schönheit. – Ein Kontrapunkt zu der Darstellung von Frauen in den Geschichtsbüchern, über die zwar bekannt ist, dass sie Anfang des 20. Jahrhunderts Knochenarbeit leisteten, jedoch traditionell als Hausfrauen dargestellt wurden, die den Männern das Essen brachten.
Klischees lassen sich nach Ansicht Angels nicht gänzlich vermeiden. Trotzdem wagt er einen anderen Blick, etwa indem er die Thematik der italie-nischen Emigranten in den Vordergrund seiner
Geschichte stellt. Er selbst verfolge mit Schichtwiessel eine didaktische Herangehensweise. Gerade Jugendlichen, die sich nicht gut mit einem Thema auskennen würden, könne man über einen Comic sehr gut vermitteln, wie etwa eine Stadt einst ausgesehen habe – auch Stimmungen transportieren.
Vor rund eineinhalb Jahren war die Gemeinde Differdingen an den Zeichner herangetreten. Bis der offizielle Rahmen geklärt war und bis zur Fertigstellung des Bandes hatte Angel sechs bis sieben Monate Zeit und stand nicht zuletzt deshalb unter Druck, weil die Gemeinde wollte, dass der Comic noch vor den Kommunalwahlen herauskam. Für die Gemeinden ist ein solcher Comic mehr als ein gutes Aushängeschild. Angel zufolge sei es eine „Win-win-Situation“, zumal wenn sie die Comics verkauften. Zudem hätten sie ein Prestigeobjekt, das sie zu Werbezwecken einsetzen könnten. Das muss auch Bürgermeister Roberto Traversini (Déi Gréng) eingeleuchtet haben, als er den Band über Differdingen im Vorwahlkampf in Auftrag gab.
Unabhängig davon reißt die auf historischen Begebenheiten basierende Arbeitergeschichte im klassischen Comic-Format einen mit. Vor allem an den detailreichen Zeichnungen der Kulisse der Stahlindustrie oder dem alten Bahnhof in Differdingen bleibt das Auge lange hängen. Auch wenn an manchen Stellen des Comics die Stahlindustrie in Differdingen und die Arbeit in der Mine im Bergwerk von Lasauvage nicht klar ausdifferenziert werden, so erlaubt sich der Künstler doch mit der fiktiven Geschichte eines Minenarbeiters aus dem Ösling, der sich in eine Italienerin verliebt, die kein Luxemburgisch spricht, einen progressiven Streich. Zudem greift der Zeichner die Arbeiterstreiks und den Mythos um die wilde Frau in „La sauvage“ auf, ohne sie zu entmythisieren und weckt mit seiner BD so die Neugier auf einen noch wenig erforschten Teil der Differdinger Arbeitergeschichte.